Das Gewaltverständnis der Autonomen

20 Thesen zu Besonderheiten, Funktionen, Selbstverständnis und Vermittlung

von Armin Pfahl-Traughber

1. Allgemeine Aussagen über die Autonomen können nur schwer formuliert werden: Erstens gibt es zu dieser linksextremistischen Subkultur keine breiter entwickelte empirische Forschung. Zweitens besteht über viele Fragen innerhalb dieses politischen Lagers selbst kein klarer Konsens. Auch und gerade zum Gewaltverständnis bleiben viele Detailaussagen selbst intern nicht ohne Einwände und Widerspruch.

2. Die erwähnten Schwierigkeiten zeigen sich schon bei der Benennung von typischen Merkmalen der Szene, die hier in einem allgemeinen Sinne in folgenden Punkten gesehen werden: a) fundamentale Ablehnung der bestehenden Gesellschaftsordnung, b) anarchistische und kommunistische Ideologiefragmente, c) subjektivistisches Verständnis der „Politik der ersten Person“, d) Ablehnung entwickelterer Institutionen und Organisationsstrukturen.

3. Gewaltbereitschaft und -tätigkeit gelten den Autonomen nicht nur als Ausdruck legitimer Einstellung und Handlungsoption, sondern als immanentes und selbstverständliches Element der eigenen Identität: „Militanz ist in unseren Augen notwendiger Bestandteil linksradikaler Politik, sowohl im allgemeinen Sinn der konsequenten, kämpferischen Haltung an sich, als auch im engeren Sinn von politischer Gewalt“ (AiB, S. 380).

4. Idealtypisch lassen sich zwei Formen von Gewaltanwendung ausmachen: Straßenkrawalle bei Demonstrationen, wobei es auch um relativ willkürliche Angriffe gegen Personen wie Polizeibeamte und Rechtsextremisten geht, und Anschläge mit Sachbeschädigungen, welche mit Hilfe von Brand- und Sprengsätzen gezielt gegen bestimmte Einrichtungen des Staates oder der Wirtschaft durchgeführt werden.

5. Die letztgenannten Taten versuchen die Verantwortlichen, in ausführlichen schriftlichen Erklärungen zu legitimieren. In den jeweiligen Texten begründet man zwar die Auswahl der Anschlagsziele mit dem Verweis auf angebliche oder tatsächliche Missstände und Untaten in den genannten Bereichen. An einer dezidierten Begründung für das gewalttätige Agieren und den Verzicht auf gewaltfreies Vorgehen mangelt es darin aber meist.

6. Somit stellt sich die Frage, welchem Typus von Gewaltlegitimation die Taten der Autonomen zurechenbar sind. Die diesbezügliche Forschung unterscheidet idealtypisch folgende Formen von Gewalt: a) den zweckrationalen Einsatz zur Durchsetzung eigner Interessen, b) den wertrationalen Einsatz zur Etablierung besonderer Moralvorstellungen und c) den expressiven Einsatz im Sinne eines Selbstzwecks.

7. Offiziell bringt die Autonomen-Szene sowohl ihr allgemeines wie ihr gewalttätiges Agieren mit dem Kampf für eine „herrschaftsfreie Gesellschaft“ und der Schaffung von entsprechenden „Freiräumen“ in Verbindung. Gewaltanwendung kann indessen selbst aus der Binnensicht der Szene aufgrund der bestehenden Kräfteverhältnisse und gesellschaftlichen Rahmensituation keine erfolgversprechende Strategie zur Erreichung dieser Zielsetzung sein.

8. Somit stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis und dem Selbstzweck der Gewalt für die Autonomen. Eine entsprechende Bereitschaft und Tätigkeit verortet man szene-intern als besondere Ausdrucksform der Militanz, wobei der Begriff für eine fundamentale Ablehnung der bestehenden Gesellschaftsordnung und unabdingbare Notwendigkeit zu grundlegenden Widerstandshandlungen steht.

9. Damit einher geht die Ablehnung des Gewaltmonopols des Staates, wobei dessen zivilisatorische Errungenschaft zur Einhegung von Gewalt in der Gesellschaft im Sinne einer bloßen Wahrnehmung als Repressionsinstrument ignoriert wird: „Für eine revolutionäre Linke ... kommt die Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols einer Bankrotterklärung gleich“ (Interim, Nr. 657/2007, S. 7).

10. Die damit einhergehende vor-aufklärerische Dimension erhebt ganz im Sinne einer „Politik der ersten Person“ die Anwendung von Gewalt zu einem Bestandteil individueller Emotionalität und irrationaler Willkürlichkeit, welchen man als einen hedonistischen und romantischen Akt der Befreiung deutet: „Freiheit ist ... der kurze Moment, in dem der Pflasterstein die Hand verlässt, bis zum Moment, wo er auftritt“ (Radikal, Nr. 98/1981).

11. Der Gewaltanwendung kommt damit auch die Dimension eines Mythos zu, welcher sich in der Beschwörung von Heldentum, Kampf und Voluntarismus ergeht. Ganz im ideengeschichtlichen Sinne von Georges Sorel (1847-1922) artikuliert sich dabei die rücksichtslose und vollständige Verwerfung der bestehenden kulturellen und politischen Ordnung und der damit verbundenen Prinzipien Rationalität und Rechtsstaatlichkeit.

12. Somit gehört die Gewaltakzeptanz und -anwendung auch zum notwendigen Bestandteil der lebens- und subkulturellen Identität der Autonomen: Man definiert sich selbst als sozial und damit auch normativ außerhalb der Gesellschaft stehend. Dies schließt den Bruch mit etablierten Regeln im gesellschaftlichen wie im rechtlichen Sinne ein, was dann auch im Verständnis von Gewalt als legitimer und normaler Handlungsform mündet.

13. Dieser Einstellung kommt hohe Bedeutung für die emotionale und personelle, soziale und verhaltensbezogene Identifikation mit der Subkultur zu: Entsprechende Aktivitäten stehen szene-intern für ein Bekenntnis politischer Art und einen Bruch mit der Gesellschaft, für eine Identität mit den Autonomen und einen Reifegrad im Bewusstsein: „Der erste Molli. Es ist wie mit dem ersten Kuss ...“ (AiB, S. 54).

14. Die Gewalthandlung an sich wird dann in dieser Perspektive als Ausdruck von Freiheit und Abenteuer wahrgenommen: „Wenn Steine oder Mollis flogen, dann war das häufig eine Befreiung – von den Zwängen des Alltags, der Unterdrückung und Entfremdung.“ Und weiter heißt es zur subjektiven Rezeption: „... das kollektive Plündern von Supermärkten war für uns der Gesang von Freiheit und Abenteuer“ (AiB, S. 148).

15. Neben dieser Bedeutung von Gewaltanwendung als Ausdruck eines Lebensgefühls spielt auch deren Funktion zur Binnenintegration eine bedeutende Rolle. Über die Erfahrung unmittelbarer Aktionen heißt es etwa: „Das stärkte ... auch unseren Gruppenzusammenhalt und das stärkte unsere Gruppe in dem Gesamtgefüge autonomer Zusammenhänge. Das verlieh uns Macht, wenn auch nur für einen Augenblick“ (AiB, S. 148).

16. Der Verweis darauf, dass Gewalt als Ausdruck eines Lebensgefühls anzusehen ist, will nicht die politische Dimension entsprechender Handlungen abstreiten oder ignorieren. Gleichwohl fällt auf, dass zwar die Gesellschaftskritik, aber nicht die Gewaltanwendung politisch legitimiert wird – sieht man von dem pauschalen Verweis auf die Notwendigkeit individueller Gewalt gegen die „strukturelle Gewalt“ der herrschenden Verhältnisse ab.

17. Deutlich zeigt sich dies auch bei der Thematik „Vermittlung“ von Aktionen in den Bereich der Öffentlichkeit oder des Umfeldes: Einerseits schreckt man aus taktischen Gründen vor Anschlägen auf einzelne Personen zurück, finden solche Taten doch kaum Akzeptanz. Andererseits kalkulieren Autonome durch ihr Agieren die Tötung von Polizeibeamten ein, wozu es bislang nur zufällig noch nicht gekommen ist.

18. Gerade die bei dem geplanteren Gewalttyp „Anschläge“ niedrigere und bei dem spontaneren Gewalttyp „Straßenkrawalle“ höhere Gefährdung von Personen macht deutlich, dass Gewalthandlungen in der Selbstwahrnehmung der Autonomen ein Faszinosum und Lustgewinn mit charismatischer und ekstatischer, irrationaler und rauschhafter Dimension gegen soziale Ordnung und Regeln darstellen.

19. In der psychischen Dimension der Gewaltanwendung im Sinne von Körperwahrnehmung und Lebensgefühl besteht bei allen ideologischen Gegensätzen eine mentale Gemeinsamkeit von linksextremistischen und rechtsextremistischen Autonomen: Beide Szenen beschwören den „Kampf als inneres Erlebnis“ (Ernst Jünger), huldigen einem ästhetischen Gewaltverständnis und inszenieren sich als heroische Straßenkämpfer.

20. Die demokratische Linke - gemeint ist hier nicht eine politische Partei, sondern ein politisches Spektrum - sollte nicht nur aufgrund der extremistischen und militanten Ausrichtung der Autonomen eine klare Abgrenzung gegenüber solchen Szenen vornehmen: Deren gerade in der Gewaltgeneigtheit zum Ausdruck kommendes Selbstverständnis ist nicht überspitzt gesellschaftskritisch und radikal, sondern zutiefst irrational und voraufklärerisch.

Die Zitate entstammen folgenden Primärquellen: AiB: A.G. Grauwacke, Autonome in Bewegung. Aus den ersten 23 Jahren, Berlin 2003, es handelt sich um eine Selbstdarstellung zur Geschichte der Autonomen; Interim und Radikal: die beiden Publikationsorgane druckten bzw. drucken regelmäßig Erklärungen der unterschiedlichen Autonomen-Gruppen ab und galten bzw. gelten als bedeutendste Print-Medien der Szene.

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