Für Freiheit, Recht und Menschenwürde
Ansprache des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg am 20. Juli 2009 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin
Ein Gefängnishof verliert in der Regel nie seine Kälte. Eine Kälte, die sich über Insassen wie spätere Besucher zu legen weiß und die jedes Ausmaß an Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung reflektiert, wenn man gleichzeitig an den Mauern einer Hinrichtungsstätte steht. Auch in Plötzensee sucht zunächst eine eisige Hand den unerbittlichen Griff um das Herz. Um sich schließlich doch zu lösen.
Dieser Ort ist anders. Hier verliert sich der tatsächliche Gegensatz von Gefangenendasein und Freiheit. Von Hinrichtung und Leben. Heute vor – bereits und erst – 65 Jahren sollte ein Versuch scheitern, den Terror, das Grauen des Nationalsozialismus zu beenden. Der Begriff des „Scheiterns“ ist gleichwohl endlich, gelang doch ein wundersames wie zunächst unerhörtes Zeichen des Gewissens, der Kultur und der Humanität.
Für Freiheit, Recht und Menschenwürde haben die Widerständler um Graf Stauffenberg ihr Leben eingesetzt, es geopfert und dennoch ein ehernes Fundament für Leben gesetzt. Für unser – vielleicht allzu oft beklagtes – Leben, auch das meiner Generation. Vergleiche verbieten sich. Doch angesichts der letzten sechzig Jahre droht manche Klage ihrer eigenen Leichtigkeit zu erliegen. Wir erinnern an diesem Tage besonders an jene, die die Tat des 20. Juli 1944 gewagt, geplant und unterstützt haben. Wir dürfen allerdings des gesamten Widerstandes gegen den Terror des Nationalsozialismus gedenken. Heute Mittag wurde im Bendlerblock bereits auf sie verwiesen. Männer und Frauen aus Gewerkschaften und Parteien waren darunter, Parlamentarier aus der Weimarer Republik, Wissenschaftler, Gelehrte, Beamte, Angehörige der jüdischen Gemeinschaft, Geistliche und Laien der christlichen Konfessionen, Studenten wie die Geschwister Scholl und auch Einzelne wie Georg Elser.
Und vielleicht muss ein Tag wie dieser den ehrenden wie hilflosen Gedanken an die zu Unrecht Vergessenen erlauben. Unter ihnen auch Familien der Attentäter, die mitunter unvorstellbare und aus heutiger Sicht so leicht kommentierte Kräfte aufbrachten. Jene, die dem Widerstand und seiner gerechten Betrachtung eines der stabilsten Fundamente verliehen. Nämlich das der Liebe. Ein Aspekt, der mancher nüchternen historischen Betrachtung möglicherweise allzu fern ist.
Ehefrauen, Kinder, Mütter. Auch sie waren tragende Säulen des Widerstandes und des nachfolgenden Lebens. Auch sie entziehen diesem Ort die hoffnungslose Todeskälte. Einige sind heute hier – wofür wir überaus danken.
Der 20. Juli ist eine Mahnung an die Zukunft und kein jährlich wiederkehrender nostalgischer Event. Mit seinem von Beginn an gegebenen Zukunftsbezug wird auch deutlich, dass dieser Tag nicht isoliert der Vergangenheitsbewältigung dienen soll, geschweige denn erschöpfend kann.
Zudem ringt dieser Gedenktag so lange mit der Gegenwart wie die Begriffe Ehre, Stolz oder Vorbild Ausdruck einer verklemmten Schüchternheit bleiben. Die Männer und Frauen des Widerstandes haben unsere Ehre verteidigt und sie uns weitergereicht. Deshalb ehren wir sie heute.
Darf man nun das Wort „Ehre“ mit der Prinzipientrias „Freiheit, Rechtsstaat und Menschenwürde“ verbinden? Meines Erachtens bedingen sie einander. Beides, die benannten Maximen und ein damit verwobenes, wohlgesetztes Ehrverständnis widerspiegeln grundlegende Werte, ja ein Erbe des christlich-jüdischen Abendlandes. Die unbedingte Notwendigkeit, die Flamme jener fundamentalen Grundsätze am Leben zu erhalten, hat sich über 65 Jahre nicht relativiert. Und angesichts der Asymmetrie heutiger Bedrohungen und unterschiedlicher Verständnisse der offenen Gesellschaft – Stichwort Iran – erklärt sich jenes Erbe nicht lediglich aus der Vergangenheit. Ich darf dies als Vertreter der Bundesregierung sagen und als einer, der an dieser Stelle erstmalig aus der – wenn man so will – Urenkelgeneration kommt.
Wir sprechen in diesem Lande gerne von der „Kultur des Erinnerns“, wenn es die Jahre 1933 bis 1945 zu beachten gilt. Für meine Generation ist das „Erinnern“ im Sinne des Erlebten unerreichbar fern. Wir mögen Profiteure der wahren Erinnerungskraft unserer Eltern und Großeltern sein. Wie verwöhnt und wenig dankbar begegnen wir zuweilen diesem Umstand. Und wie schnell ist man hinsichtlich des Widerstandes den Fliehkräften im Spannungsfeld zwischen Verklärung und Vergessen ausgesetzt.
Erinnern kann für meine Generation also nur heißen, sich mit dem Vermächtnis zu befassen und dieses – soweit es den Möglichkeiten entspricht – ins eigene Leben aufzunehmen. Andernfalls würde auf das Versprechen, die Erinnerung an die mutigen Taten des deutschen Widerstandes wach zu halten, das Unglück lähmender Gleichgültigkeit folgen – und diese Gedenkstätte würde wieder allein dem kalten Todeswind ausgesetzt.
Ich durfte noch das große Glück von Zeitzeugenberichten und damit die Kraft der Authentizität erfahren. Immer weniger werden allerdings aus erster Hand zu berichten wissen. Wir alle vermissen bereits heute Philipp Freiherr von Boeselager, der vergangenes Jahr verstorben ist. Er war für mich ein Mann eindrücklichster Bescheidenheit, der stets vor unreflektierter Verehrung warnte.
Heroisieren wir etwa übermäßig? Mein Onkel Franz-Ludwig Graf Stauffenberg, der heute zugegen ist, hat dies einmal wunderbar formuliert: „Mein Vater und seine Mitstreiter waren für mich Mitmenschen, die hinsehen, wo andere wegschauen. Sie rangen um Entscheidungen. Sie handelten, wo andere beiseite traten.“ Ein Blick des Sohnes.
Von meiner Urgroßmutter weiß ich, dass die ihr bekannten Mitglieder des Widerstandes keine Helden sein wollten, auch wenn sie mit ihren Taten ihr Leben aufs Spiel setzten. So schilderte sie ihren Schwager Karl-Ludwig Freiherr zu Guttenberg als jemanden, „der Kunst und Schönheit liebte, der immer lächelte, der sein bequemes Leben gewohnt war, (und) so gar nicht aus dem Holz geschnitzt (war), aus dem ein Held ist, der Folter und Tod mutig auf sich nimmt.“ Was er im Übrigen schließlich tat. Wir sollten uns also davor bewahren, den Widerstand – ohne den Blick auf die Menschen – auf ein unerreichbar hohes Podest zu stellen und gänzlich entrückte, vielleicht seelenlose Helden zu schaffen.
Dies fordert zwar umso mehr Demut bei der Beantwortung der Frage, ob man sich in einer vergleichbaren Situation ähnlich verhalten könnte. Selbst bei weit geringeren Herausforderungen gilt aber: Der wahrhaftige Dienst für Freiheit, Recht und Menschenwürde darf durch schiere Übergröße der Vorbilder nicht gehemmt werden.
Auffällig ist indes, dass wiederholt ein anderes Extrem gesucht wird: der belehrende, akribisch die Schwächen suchende und nicht selten zur Marginalisierung neigende Unterton in der Beschreibung der Widerstandsbewegung. Auch hierbei gewinnt dieser Gefängnishof, gewinnt Plötzensee seine Eiseskälte zurück. Worauf richtet sich dieses Ansinnen? Möglicherweise auf das Verständnis von Vorbildern. Tatsächliche Vorbilder für verantwortungsvolles Handeln entspringen jedoch nicht der Erkenntnis von Übermenschlichkeit, sondern im Ergebnis ist es gerade das Menschliche, was die Taten groß, auch heldenhaft erscheinen lässt. Es wäre ein Ausweis der Armseligkeit, wenn der moralisierende Maßstab des Übermenschlichen – angelegt von allzu menschlichen Vertretern – das Land seiner Vorbilder berauben würde.
Immer wieder wird im Zuge des 20. Juli „mangelndes Demokratiebewusstsein unter den Verschwörern“ beklagt. Was für ein komfortables, ja manchmal hochmütiges Urteil – sei es aus dem angeblich gefestigten Wissen unserer Zeit oder aus Gründen individueller Geschichtsbewältigung. Die Frage, ob sich letztere Haltung aus dem Streben nach Minimierung der Gefahr persönlichen Scheiterns erklärt, mag an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Die Divergenz zu den Mitgliedern des NS-Widerstandes wäre allerdings bezeichnend.
Wie viele der heutigen, selbsternannt vorbildlichen Demokraten sind sich der mitunter verzehrenden Motive und der Ausgangslage des breiten Widerstands eigentlich noch bewusst? Wie viele haben sich vom intellektuellen Ruhekissen aus jemals mit den Qualen beschäftigt, die Menschen einholen, die wissen, dass sie für ihre Überzeugungen ihr Leben und das ihrer Familien riskieren? Wie viele danken gerade jenen für ihr Ruhekissen? Wie viele wissen um die Kausalität und Folgen des Scheiterns der Weimarer Demokratie? Wie viele würden schließlich selbst Widerstand gegenüber weltweit unübersehbaren Aushöhlungen demokratischer Leitbilder leisten?
Altklugheit ist in der Regel ein Produkt der Bequemlichkeit. Gewiss: die Chancen der ersten deutschen Demokratie wurden verspielt, da sich zu wenige für sie einsetzten. Klaus von Dohnanyi sprach einmal von „tragischen Geschwistern“ und meinte damit die Männer und Frauen des 20. Juli sowie jene Demokraten, die sich vergeblich bemühten, die Weimarer Republik stabil zu halten. Für viele ist Demokratie heute klangvolle Selbstverständlichkeit. Ebenso der Umstand, in einem Staat des Rechts, der Freiheit und des Friedens zu leben. Meiner Generation wurde all dies in den alten Bundesländern mit der Geburt geschenkt.
Der behagliche Glaube an die Demokratie als Selbstläufer ist hingegen eine gefährliche Haltung. Zumal in Krisenzeiten, die einige genügsam nutzen, um Systemfragen zu stellen. So trivial es klingen mag: Die Demokratie lebt vom Einsatz der Demokraten. Vor 20 Jahren wurden im Osten Deutschlands diesbezüglich großartige Zeichen gesetzt. Wir dürfen sie nicht in Vergessenheit geraten lassen. Den Systemkritikern von heute ist Widerstand zu leisten – allerdings mit einem Demokratieverständnis, das nicht nur Engagement, sondern auch Selbstvertrauen einfordert.
Der Vortragende hinterließe einen merkwürdigen Eindruck, sollte der Blick auf Mitglieder der eigenen Familie im Widerstand ohne Stolz gerichtet werden. Allerdings kein Stolz der Selbstgefälligkeit, sondern vergleichbar mit jenem, der seinen Bezugspunkt in Leistungen der Deutschen seit Kriegsende sucht. Ein Stolz folglich, der jenen gelten soll, die gerade in der Erkenntnis des Widerstandes ein Grundgesetz zu schaffen wussten. Der jenen gelten muss, die seit 1949 als prominente wie vergessene Verantwortungsträger für eine Bundesrepublik in Frieden und Freiheit aufopferungsvoll wirkten. Und der all jenen gilt, die das Glück des Jahres 1989 zu schmieden wussten.
Insgesamt ein tief emotionales Empfinden, das uns angesichts der hier ausgestandenen Todesängste, der existenziellen Sorgen um die Familien und des ungeheuren Mutes und Gottvertrauens mehrfach verpflichtet: zu Demut und unbedingtem Einsatz für das Erbe des 20. Juli – Freiheit, Rechtstaatlichkeit und Menschenwürde.
So standen bereits vor 65 Jahren auf diesem Platz der Todeskälte drei unsichtbare Wiegen. Plötzensee verliert seinen Schrecken nicht. Ein Schrecken, der indes mit dem 20. Juli, dem Widerstand, neues Leben und Hoffnung geboren hat.