1789 und 1989
Der Sturm auf die Bastille und der Fall der Mauer
Von Waldemar Ritter
Der Fall der Mauer ist das wirkungsmächtigste Symbol des freiheitlichen demokratischen Umbruchs von 1989. Das Volk hat in Leipzig und in der gesamten DDR seinen Namen gerufen: „Wir sind das Volk“ – „Wir sind ein Volk“. Die Revolution in der DDR und in Mittelosteuropa hat gesiegt. Sie hat das politisch kurze Jahrhundert beendet, das 1914 begann, nach dem überlangen Jahrhundert, dessen Geburtsstunde 1789 die Französische Revolution gewesen ist.
Auf der entscheidenden Leipziger Montagsdemonstration gab es ein Schild, auf dem nichts weiter stand als: „1789 – 1989“. Das Schild eines Unbekannten, das zum Ausdruck brachte, was die größte Revolution seit 200 Jahren wurde. Eine Revolution, die Deutschland, Europa und die Welt verändert hat. Es war der Fall der Mauer, es war die Revolution in der DDR, die zu einer grundlegenden Um- und Neugestaltung der europäischen Landkarte führte: zur Wiedervereinigung Deutschlands und für die mittelosteuropäischen Länder zur „Rückkehr nach Europa“, sowie zu radikalen Verschiebungen der globalen Machtverhältnisse. Die Freiheit der Völker, die Freiheit der Menschen führte zu kulturellen, gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Um- und Aufbrüchen, deren Prozesse bis heute wirksam sind. Mit ihnen hat ein neues Jahrhundert begonnen.
Der Anfang vom Ende war der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR. Es folgten Ungarn 1956, Prag 1968 und Polen 1980. Jeder meiner Generation hat die Bilder der von Panzern niedergewalzten Volksaufstände im Osten vor Augen. Jeder von uns, der heute über 30 Jahre alt ist, die millionenstarke Revolution in der DDR und die ergreifenden Momente des Mauerfalls. Sie sind in unserer kollektiven Erinnerung gegenwärtig. Es sind Sternstunden, es sind Glanzlichter unserer Freiheits- und Demokratiegeschichte. Es war das Ausrufezeichen, der Punkt und das letzte Glied in einer langen Kette, zu der alle Volksaufstände sowie der jahrzehntelange Widerstand und die Bürgerbewegung in der DDR gehören.
Gerade Revolutionen gründen auf geistigen, gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bedingungen. Das hätte eine Diktatur, die sich auf Karl Marx und dessen politische Ökonomie berief, eigentlich wissen müssen, vor allem was die systemimmanente Ausbeutung der Arbeiter und des Volkes bedeutet.
1989 fiel die Mauer zwischen zwei Staaten, die 1945-49 dieselbe ökonomische Ausgangsposition hatten. 1989 fiel die Mauer zwischen einem Staat mit einer hocheffektiven sozialen Marktwirtschaft und einem Staat mit einer ruinösen Zentralverwaltungswirtschaft. Einer Planwirtschaft mit über 16 % verdeckter Arbeitslosigkeit, einer Arbeitsproduktivität von 30 % West und einer technologischen Differenz von 20 Jahren. Die Ostlöhne lagen bei 31 % West. Bis auf die Privilegierten des SED Systems war die große Mehrheit der Ostdeutschen unter dem Sozialhilfeniveau, unter der Armutsgrenze des Westens.
Zu den politischen Bedingungen gehörten auch die Außenpolitik, die Innerdeutsche Politik, die neue Ostpolitik des Westens, ebenso wie der polnische Papst oder Gorbatschows Glasnost und Perestroika. Dazu gehörte, dass in Polen und anderen Ländern des „Ostblocks“ längst umwälzende Prozesse im Gange waren. Dazu gehörten die ungarische Grenzöffnung ab 2. Mai 1989 und die Förderung der Ausreise von 50.000 DDR-Urlaubern am 11. September 1989 nach Österreich gegen den massiven Widerspruch der DDR-Regierung, die von Solidarnosc in Polen am 4. Juni 1989 erzwungenen Wahlen und der erstmals von Bürgerrechtlern nachgewiesene Wahlbetrug vom 7. Mai 1989 in der DDR. Ich erinnere mich an den mutigen Pfarrer Rainer Eppelmann, der mir bei dem Empfang, zu dem unsere ständige Vertretung in der DDR aus Anlass des 40. Jahrestages des Grundgesetzes eingeladen hatte, einen verschlossenen Umschlag mit Wahlfälschungen der DDR gab, die ab dem nächsten Tag nicht nur in der Weltpresse nachzulesen waren, sondern von den Menschen, die ihre Antennen auf Westfernsehen gerichtet hatten, auch gesehen wurden.
Stellvertretend für die vielen Vorkämpfer des Mauerfalls erinnere ich an Wolf Biermann, Sarah Kirsch, Rainer Kunze und Erich Loest, an Kurt Masur, Christian Führer, Richard Schröder, Gunter Weißgerber, Markus Meckel, Martin Gutzeit, Joachim Gauck, Marianne Birthler, Hans Meier, Friedrich Schorlemmer, Stephan Hilsberg, Christine Lieberknecht und Konrad Weiß. So unterschiedlich sie waren, sie waren Teil der Volonté générale. Sie haben Zeichen für die Revolution und den Fall der Mauer gesetzt.
Im Westen war es das Grundgesetz, waren es diejenigen, die die deutsche Frage offengehalten haben und für das Selbstbestimmungsrecht der Menschen in der DDR eingetreten sind, wie es im Brief zur Deutschen Einheit formuliert wurde: „...auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das Deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt.“
1989 waren es in Westdeutschland wenige Politiker, die den „Mantel Gottes“ in der Geschichte hatten rauschen hören und im Wissen um das enge Zeitfenster richtig handelten: Helmut Kohl, Willy Brandt, Wolfgang Schäuble, Hans-Jochen Vogel, Rudolph Seiters, Hans Dietrich Genscher und Annemarie Renger waren zusammen mit Kennern der Materie in Bundesministerien zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Demokraten an der richtigen Stelle.
Dass die Mauer am 9. November 1989 fiel, war der friedlichen Revolution, der Umsicht und Vernunft der Menschen in der damaligen DDR zu verdanken. 1789 der Sturm auf die Bastille. 1989 der Tanz auf der Mauer. Das Volk hat seinen Namen gerufen und die Mauer zu Fall gebracht. Das Volk hat Geschichte geschrieben.
Erschienen in: FREIHEIT UND RECHT 2009 / 3+4