„Das Heine’sche an ihm...“
zum 10. Todestag von Jürgen Fuchs
von Ralph Giordano
Mit dem Tod von Jürgen Fuchs ist ein Freund gegangen, wie es in meinem langen Leben keinen zweiten gab. Ich weiß, was ich sage, und was natürlich keine Zurücksetzung anderer sehr Nahestehender bedeutet. Es ist vielmehr der Ausdruck für eine Begegnung, die mich von der ersten Stunde an, also vor mehr als 30 Jahren, innerlich in eine bestimmte Position versetzte: Nicht ich, der umso vieles Ältere, war der Senior - er war es, Jürgen Fuchs, der mein Sohn hätte sein können! Ich sah mich in der Rolle des Junior, eine singuläre Erfahrung, an der sich bis zu seinem Tod vor zehn Jahren nichts geändert hat. Es sei denn, die Grundstellung hatte sich im Laufe der Zeit noch verfestigt.
Dies ist ein öffentliches Geständnis, gebracht in Trauer, daß ich es nicht mehr vor ihm selbst ablegen konnte.
Es war das Fertige an ihm, weit über seine Jahre hinaus, das erstaunte und überraschte - er hatte früh zu sich selbst gefunden, dieser verletzliche Mann, sehr früh.
Als ich ihn das erstemal traf, kurz nach seiner Ausweisung - Tempelhofer Damm 54 schon - hatte er gerade Besuch erhalten, von einem Fernsehteam des Bayerischen Rundfunks, Leute, die dumme Fragen stellten, von totaler innerer Beziehungslosigkeit zum Schicksal ihrer Interviewbeute. Als die sich der Zumutung einer Befragung entzog, sie verweigerte, mußte er sich anhören: „Können Sie sich das überhaupt finanziell erlauben?“ Da fragte ich mich: Wie soll er dieses Land aushalten - die gerade noch am eigenen Leib gespürte grausame DDR-Wirklichkeit, und die geballte Unsensibilität westlich davon?
Deutschland, deine Dissidenten...
Auf dem Schleifstein der Geschichte ganz schön blank gewetzt, schälten sich für mich, beseligend das eine, schmerzhaft das andere, klare Konturen von Freund und Feind heraus. Ich bin stolz, sagen zu dürfen: Dieser war mein Freund, und ich der seine.
Und ich war es, und bin es, weil er ehrlich war. Ich meine das nicht unter dem Aspekt des bloßen Gegensatzes von Wahrheit und Lüge, ich meine es als Urform seiner Erscheinung, seiner Individualität: Jürgen Fuchs war transparent, durchscheinend. Der Volksmund sagt: Er trägt sein Herz auf der Zunge - Jürgen Fuchs trug sein Herz auf der Zunge.
Ich war sein Freund, und bin es, weil ich ihn, wenn in Zweifeln, heimlich befragte: wie würde er reagieren, wie er entscheiden? Ich zählte auf seine Kundigkeit. Was er sagte, war durchdacht.
Ich war sein Freund, und bin es, weil er in dieser Welt babylonischer Wirrnis, einer Welt der Gewalt, der Gegengewalt und einstürzender Gewißheiten, mir so etwas wie ein Kompaß war.
Ich war sein Freund, und bin es, weil er gequält worden ist, um seiner Lauterkeit willen - er war in Haft, er war in Angst - um die Seinen, um sich selbst, er war in Ungewißheit. Da verharre ich einen Augenblick und denke daran zurück, wie ich in Haft war, in Angst - um die Meinen, um mich selbst, und, wie er, in Ungewißheit. So wird man einander Freund.
O ja, richtig - das Kriminalgewicht des Holocaustregimes war ungleich schwerer als das der Hammer- und Zirkel-DDR. Aber wird ein so scheußliches System wie das des realexistierenden Sozialismus etwa weniger scheußlich dadurch, daß es ein noch scheußlicheres gab?
Ich war Jürgens Freund, und bin es, weil er, was er tat, nicht nur für sich allein tat - er tat es für andere, gegen die Freiheitsbeschränker und sehenden Auges, was ihm dabei zustoßen könnte. Ihm und der Familie - klassische Geisel in den Händen der Folterer, größtes Unrecht und gemeinstes Verbrechen, das Menschen von Menschen angetan werden kann. Lilo weiß, wovon ich spreche. Es heißt, die Grenzen zwischen Täter und Opfer können verschwimmen, können amalgamisieren... Mag sein - hier, bei diesem Opfer, nicht. Es gibt eindeutige Situationen, da stehen sich Gut und Böse unvereinbar gegenüber - Jürgen Fuchs und die Stasi...
Ich war sein Freund, und bin es, weil er uns in vielen Büchern und Schriften seine Integrität hinterlassen hat, ein bleibendes Erbe.
Schließlich: Sein Zorn über die Täter, die auch diesmal wieder davongekommen sind, ist der meine, und mein Schwur, dennoch nicht aufzugeben, war der seine. Untergang der DDR, Wiedervereinigung und die Folgen - Stoff, sich endlos zu engagieren. Der Tod hat es anders gewollt.
Nach seinen Schwächen habe ich nicht gefahndet, sie gehörten zu ihm, wie zu jedem Menschen. Anderes war exemplarisch, zum Beispiel, daß er unfähig war, mich zu enttäuschen.
Der Deutsche Jürgen Fuchs hat das Seine dazu getan, daß ich, nach allem, meinem Fluchtinstinkt nicht nachgab und in diesem schwierigen Land geblieben bin. Das Heine’sche an ihm ist so vertraut, diese dauernde Zerreißprobe zwischen Anziehung und Abstoßung. Dahinter aber konturierte sich eine Liebesfähigkeit, die, nur allzu oft unerwidert, suchte und suchte und suchte... Wer das erkannte, den traf es bis Ins Innerste.
Keiner hat mich mehr provoziert als er, Friedrich Hölderlin zu zitieren: „So kam ich unter die Deutschen..." - allem voran jene Stelle aus „Hyperion", vier Zeilen nur und doch eine der erschütterndsten Klagen der Weltliteratur:
„O gäb’ es eine Fahne, ein Thermopylä, wo ich in Ehre sie verbluten könnte, all die einsame Liebe, die mir nimmer brauchbar ist...“
In memoriam Jürgen Fuchs.
Erschienen in: FREIHEIT UND RECHT 2009 / 3+4