Erinnerung an eine streitbare Demokratin

Zum 90. Geburtstag von Annemarie Renger

Von Hans-Jürgen Grasemann

Vorsitzender des ZDWV

Annemarie Rengers Lebenslauf liest sich wie ein Geschichtsbuch. Am 7. Oktober 1919 in Leipzig geboren, wuchs sie in einer Familie auf, in der alles sozialdemokratisch war: der Großvater aktiver Sozialdemokrat, der Vater, Fritz Wildung, Mitbegründer der sozialdemokratischen Arbeitersportbewegung, ihre Mutter ebenfalls Mitglied der SPD. Reichstagspräsident Paul Löbe und der preußische Innenminister Carl Severing waren häufige Gäste in ihrem Elternhaus. So wurde die junge Annemarie frühzeitig mit dem politischen Abwehrkampf der Demokraten in der Weimarer Republik gegen den heraufziehenden Nationalsozialismus vertraut.

1934 wurde Annemarie Renger vom Augusta-Lyzeum in Berlin verwiesen, weil ihr wegen der sozialdemokratischen Gesinnung ihrer Eltern ein damals notwendiges Stipendium verweigert wurde. Ihr Vater wurde von den Nazis verfolgt und mit Berufsverbot belegt. Sie litt sehr unter dem Zerfall des demokratischen Deutschland und sah, dass die Republik von Weimar ihren Feinden nicht erlegen wäre, hätten die sich ihr nicht halben Herzens versagt, die ihre Freunde hätten sein sollen.

Der Zweite Weltkrieg schnitt tief in ihre Familie ein: Annemarie Renger verlor drei Brüder und ihren Ehemann. Sohn Rolf hat seinen Vater nie richtig kennen lernen dürfen.

Der 8. Mai 1945 war für sie persönlich wie politisch eine Befreiung. Bestimmend für ihr weiteres Leben war ihre Arbeit seit Oktober 1945 im "Büro Dr. Schumacher" in Hannover. Für ihre Bewerbung in Hannover war ein Zeitungsbericht mit der Überschrift "Wir verzweifeln nicht" über eine Rede Kurt Schumachers, mit der er den Deutschen Zuversicht und Selbstbewusstsein vermitteln wollte, maßgeblich, wie sie sechzig Jahre später 2005 schrieb: "Diesen Mann muss ich kennenlernen! Das war mein spontaner Gedanke, als ich im Juni 1945 in einer von der britischen Militärregierung herausgegebenen Hannoveraner Tageszeitung zum ersten Mal von Kurt Schumacher las. Ich war fasziniert und beschaffte mir seine Rede."

Als Sekretärin und Vertraute begleitete sie fortan Kurt Schumacher auf seinen Reisen durch Deutschland zwischen Flensburg und Rosenheim. Aktiv beim demokratischen Neuanfang im Westen, erlebte sie in Berlin den Kampf zwischen Demokratie und neuer Diktatur im Osten. In dieser Zeit entstand das berühmte Foto, das den einarmigen und beinamputierten Kurt Schumacher, gestützt von seiner Assistentin Annemarie Renger, zeigt. Das Bild wurde zum Symbol für den demokratischen Neubeginn.

Dem Deutschen Bundestag gehörte Annemarie Renger von 1953 bis 1990 an. In diesen 37 Jahren wurde die Spaltung der Nation durch die Diktatoren im Osten Deutschlands und Europas vorangetrieben, stand die Mauer in Berlin 28 Jahre und konnte nach dem Ende des SED-Regimes die nationale und staatliche Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit vollendet werden - wie es 1949 die Präambel des Grundgesetzes geboten hat.

Annemarie Renger war die erste Frau, die in ihrer Fraktion Parlamentarische Geschäftsführerin wurde. Das Amt hat sie von 1969 bis 1972 ausgeübt. Mit ihrer Wahl zur Präsidentin des Deutschen Bundestages 1972 war sie die erste Frau an der Spitze eines frei gewählten Parlaments. "Miss Bundestag", wie sie von Journalisten nach ihrer Wahl zur Abgeordneten 1953 genannt worden war, wurde die Grande Dame, deren Präsidentschaft bis 1976 den Deutschen nachhaltig in Erinnerung bleiben wird. Resolut, energisch, erfrischend offen und vor allem mit Charme und Humor hat sie das Parlament dem Bürger näher gebracht.

Die Bitte um Versöhnung an alle Völker, die unter uns Deutschen gelitten haben, war Annemarie Renger ein besonderes Anliegen. Auch als Bundestagsvizepräsidentin und als Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Parlamentariergruppe (1976 bis 1990) wandte sie sich gegen verantwortungsloses Vergessen und die Flucht aus der Geschichte. Ihr Engagement wurde mit der Ehrendoktorwürde der Ben-Gurion-Universität, der Buber-Rosenzweig-Medaille und dem Heinz-Galinski-Preis der Jüdischen Gemeinde Berlin gewürdigt.

Ihre besondere Liebe galt bis zum Schluss "ihrer" Kurt-Schumacher-Gesellschaft und damit dem Andenken jenes Mannes, der für ihr Leben prägend war, dessen weltgeschichtliches Nein zum Kommunismus das unantastbare Ja zur Freiheit war.

Als langjährige Vorsitzende des Zentralverbandes Demokratischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen (ZDWV) hat die streitbare Demokratin sich nicht schonend bis zuletzt für die Opfer der beiden deutschen Diktaturen 1933 - 1945 und 1945 - 1989 eingesetzt.

Ihr letzter Beitrag für FREIHEIT UND RECHT (Juni 2007/2) zum gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 und zur gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes am 17. Juni 1953 ist Vermächtnis und Mahnung zugleich:

"So verschieden beide Ereignisse waren, so ähnlich waren sie sich in dem Bestreben, Freiheit und Recht durchzusetzen und unmenschliche Tyrannei zu überwinden. Der Zusammenhang beider Gedenktage ergibt sich aus der Tatsache, dass die zweite Diktatur in Deutschland ohne die erste und den von ihr entfesselten Weltkrieg nicht stattgefunden hätte. Und sie hängen auch deshalb zusammen, weil in Deutschland Widerstand nicht nur Niederlage, sondern auch Hoffnung war. Hoffnung, weil in Deutschland Widerstand von Demokraten gegen Diktaturen möglich war und - vor allem im Sinne von ‚Wehret des Anfängen’ - immer möglich und nötig bleibt.

Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ist der Ausgangspunkt der Arbeit des ZDWV. Überlebende Opfer des NS-Terrors und ihre Nachfahren prägen bis heute unsere Tradtition, die auch ganz junge Leute anzieht. Nach und nach kamen immer mehr Opfer der SED-Diktatur und Überlebende des GULag dazu, weil sie sich in unserer Tradition gut aufgehoben sehen...

... Aus Nebeneinander wird Miteinander im gemeinsamen Kampf gegen Diktatur. Das ist attraktiv für die Jugend und macht die Demokraten stärker, denn Feind der Demokratie ist das antidemokratische Denken in seinen verschiedenen Ausprägungen. Antidemokratische Bestrebungen sind nicht mit den beiden Diktaturen in Europa untergegangen. Sie leben fort und treten uns Demokraten heute und sicher auch weiterhin, oftmals getarnt und schleichend und dann wieder in unverschämter Offenheit gegenüber...

... Kluger und kenntnisreicher Kampf gegen den Extremismus ist daher heute wie vor achtzig Jahren eine der großen Überlebensfragen der im demokratischen Verfassungsstaat garantierten Freiheit."

Tradition bewahren, hieß für Annemarie Renger nicht Asche aufheben, sondern eine Flamme am Brennen erhalten, die Flamme der Menschlichkeit, der Freiheit und der Gerechtigkeit.

"Wir nehmen heute Abschied von einer bemerkenswerten Frau und einer unverwechselbaren Persönlichkeit. Wir verneigen uns vor einer bedeutenden Parlamentarierin, vor einer leidenschaftlichen Demokratin. Annemarie Renger hat sich um Deutschland verdient gemacht." Mit diesen Worten schloß der Präsident des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Norbert Lammert, seine Ansprache beim Trauerstaatsakt für die Präsidentin a.D., Dr. h.c. Annemarie Renger, die ihren Lebensweg im Alter von 88 Jahren am 3. März 2008 vollendet hat.

Am 7. Oktober 2009 jährt sich der Geburtstag von Annemarie Renger zum 90. Mal. Der ZDWV gedenkt mit Dankbarkeit und Stolz an das lange und erfolgreiche Wirken seiner Vorsitzenden, die über die Zeit hinaus auf die unzerstörbaren Ideen von Freiheit, Recht und Demokratie hingewiesen hat. Die Biografie der am 7. Oktober 1919 als Annemarie Wildung geborenen Annemarie Renger liest sich wie ein deutsches Geschichtsbuch. Dabei hat sie unser Land seit mehr als 60 Jahren mit geprägt und selbst Geschichte, vor allem Parlamentsgeschichte, geschrieben.

Annemarie Renger bedarf unseres Rühmens nicht; wir bedürfen ihres Beispiels.

Erschienen in: FREIHEIT UND RECHT 2009 / 3+4

 

Unsere Partner

Copyright © 2019 Bund Widerstand und Verfolgung (BWV-Bayern) e.V.
Alle Rechte vorbehalten.