Almosen für die Opfer. War’s das?

Die demokratische Gesellschaft und ihre Vorkämpfer

Von Waldemar Ritter

Deutschland hat den Nationalsozialismus und den Kommunismus erlebt; seine demokratische Zukunft hängt davon ab, ob es gelingt, diese Erfahrungen kritisch zu verarbeiten. In beiden Diktaturen gab es Widerstand und Menschen mit Mut, Anstand und Zivilcourage. In beiden Regimen wurden Personen, die ganz einfach ihr Menschenrecht in Anspruch nahmen, bespitzelt, denunziert oder in Sippenhaft genommen, wurden Demokraten und Regimegegner verfolgt, inhaftiert, gefoltert und getötet. Kinder wurden ihren Eltern aus politischen Gründen weggenommen, Schülerinnen und Schüler aus politischen Gründen von höherer Bildung ausgeschlossen.

Deutschland hat die beiden totalitären Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts zusammen genommen „gründlicher ausgekostet“ als alle übrigen Länder Europas – über die lange Zeitstrecke von 44 Jahren hinweg sogar kontrastierend zur Demokratie im eigenen Lande. Dieser traurige „Rekord“ hat im Nachhinein einen „Vorteil“: unser Land verfügt über das kompakteste Lehrmaterial über Diktatur, Widerstand und Verfolgung. Aber die Chance wurde verpasst, die Opfer der Diktatur als Vorkämpfer, als gewichtigen konstituierenden Faktor der Demokratie, zu ehren, zu feiern und aus ihren im letztlich unbeschreibbaren Leiden gewonnenen Erkenntnissen zu lernen: Bildung zur Bewährung in der Demokratie.

Die Würdigung des Widerstandes und der Opfer der SED-Diktatur liegt im Interesse der demokratischen Gesellschaft und ist von ihr aus freien Stücken zu erbringen. Nicht die Betroffenen oder ihre Verbände müssen in erster Linie das Wort nehmen, sondern zuallererst wir, die gesamte Gesellschaft, unsere Kulturnation. Die Opfer dürfen nicht in die Lage gebracht werden, um ihre Anerkennung buhlen zu müssen; umgekehrt: Wir haben die Bringschuld, wir müssen ihnen diese Anerkennung und Ehrung zu Füßen legen. Das gilt auch für finanzielle Entschädigung, die nur ein bescheidener Versuch sein kann, Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen, und nicht ein „gewährtes“ Almosen, für das sich die Widerständler zu bedanken hätten.

Siebzehn Jahre nach der Wiedervereinigung und dem Einigungsvertrag wird jenen Menschen, die in der DDR ihre persönliche Freiheit und ihr Leben für das Recht, für die Menschenrechte, für mehr Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie riskiert hatten, nicht die Anerkennung und Ehre zuteil.

Die von den Koalitionsparteien ins Auge gefasste Regelung besagt, dass jeder, der mindestens sechs Monate in der DDR inhaftiert war und sich in einer „wirtschaftlich schwierigen Lage“ befindet, eine „Opferrente“ von monatlich 250 Euro bekommen soll. Das ist finanziell gut für die 16 000, die das bekommen sollen, weil sie aus sozialen Gründen jeden Euro brauchen. Mit politischer Kultur hat dies allein allerdings wenig zu tun. Das Unrecht der SED-Diktatur hat alle Verfolgten betroffen. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die in der Diktatur Widerstand geleistet haben, noch heute für das ihnen angetane Unrecht mit Mindestrenten und Sozialhilfe bestraft werden, während die Täter auf Kosten des Steuerzahlers überhöhte Renten erhalten und ihre Opfer verhöhnen. Menschen, die in der DDR gefoltert wurden, erhalten monatlich 118 Euro. Die Rentennachzahlungen für die dem SED-Staat dienstbaren Personen kosteten jährlich drei Milliarden Euro, die so genannten „Opferrenten“ würden nur 71 Millionen kosten. Was wir brauchen, sind nicht beschämende Feigenblätter, sondern neben der Hilfe für sozial Bedürftige eine symbolische Ehrenpension für alle Opfer, für alle Verfolgten und Widerstandskämpfer. Das Problem unserer Gesellschaft und unserer Politik ist, dass wir soziale Trostschnäpse mit politischer Kultur in unserem Land verwechseln. Diese Menschen haben Werte gelebt, auf denen der Staat aufbaut, die er aber selbst nicht schafft, weil sie dem Staat ebenso vorgegeben sind wie alle Menschen- und Grundrechte.

Berlin und Biermann

Es gibt genug Beispiele dafür, dass diejenigen, die ihren politischen Platz dem Grunde nach solch herausragenden Menschen verdanken, oft genug nicht wissen, was sie tun. Da ist aus dem Vorstand der größten Fraktion des Berliner Abgeordnetenhauses und aus der Umgebung des Regierenden Bürgermeisters zu hören gewesen, dass dem ausgebürgerten Wolf Biermann die Ehrenbürgerschaft Berlins nicht verliehen werden könne, weil er Gerhard Schröder kritisiert habe. Das wurde inzwischen von der Gesamtfraktion mit massiver Mehrheit korrigiert. Aber es zeigt, welch feudalistische Denkstrukturen der „Majestätsbeleidigung“ aus Kaiser Wilhelms Zeiten noch immer in Köpfen von Abgeordneten oder Parteifunktionären herumspuken und welche  Geschichtsvergessenheit ausgerechnet in Berlin Platz gegriffen hat. Hier geht es um eine Dimension, die den gefährlich engen Horizont einiger Berliner Landespolitiker offensichtlich weit übersteigt: Es geht um einen hoch politischen Künstler von europäischem Format, dessen Zwangsausbürgerung 1976 einen gewaltigen Stein ins Rollen brachte und schließlich den Anfang vom Ende der SED-Diktatur einläutete. Damit erledigt sich freilich die absurde These, wonach die widersinnige  Regierungskoalition aus einer demokratischen Partei einerseits und der PDS andererseits im Lande Berlin der inneren Einheit der Stadt diene. Und hier mag ja der tiefere Grund für den provinziellen Widerstand gegen die Ehrenbürgerschaft gelegen haben.

PDS und 68er

Es gibt bei PDS-Anhängern und im Westen bei „68ern“ noch immer eine tiefe Abneigung, sich mit der strukturellen Unmenschlichkeit der DDR auseinander zu setzen. Wie nach der Nazidiktatur müssen wir weg von diesen Verdrängungsapparaten und auch von der politischen Kleingeisterei dieser „68er“, die trotz der Erfahrung von Hitler und Stalin die rote Bibel des Massenmörders Mao schwenkten, sich aber nicht für ihre eingekerkerten Landsleute in der DDR interessierten. Diese romantisierenden Wohlstandsprotestler und im Grunde verklemmten Spießer, die sogar zur „Praktizierung“ des einfachsten und schönsten Menschheitsvergnügens eine komplizierte Ideologie brauchten, wie Uschi Obermaier in Buch und Film wohl zutreffend charakterisiert hat, können nicht verkraften, dass die Revolution eben nicht in der alten „BRD“, sondern in der DDR stattgefunden hat – dass nicht Freiheit und Demokratie, sondern der Kommunismus implodierte.

Geschichtsvergessenheit überwinden

Die Revolution und ihre Vorkämpfer haben ganz Deutschland und ganz Europa die Freiheit und Einheit ermöglicht, die mit dem Widerstand in der DDR, in Polen, in der Tschechoslowakei und Ungarn begann. Die selbstbewusster werdende Zivilgesellschaft lässt es nicht zu, dass die „68er“ oder einstige Nutznießer kommunistischer Ausbeutung Wolf Biermann schlagen und alle Verfolgten und Widerständler meinen. Nun wird die Berliner Ehrenbürgerschaft für Wolf Biermann auch zur Ehrenbürgerschaft für alle Verfolgten der Diktatur, ein Fest der freien Gesellschaft. Warum eigentlich nicht vor dem Brandenburger Tor auf dem Platz der Republik? Vielleicht nutzt Berlin die Blamage, Geschichtsvergessenheit zu überwinden und seine zentrale Rolle als Symbol des Freiheitskampfes wiederzufinden. Erst dann kann die Stadt Berlin auch ihrer Hauptstadtrolle gerecht werden und zu einer politisch-kulturellen Atmosphäre in der ganzen Republik beitragen, in der die Opfer der Diktatur endlich zu Hause angekommen sein werden.

 

Der Autor ist Politikwissenschaftler und Historiker, Vorstand des Deutschen Politologenverbandes. Mehr als drei Jahrzehnte war er für deutschlandpolitische Fragen und für die innerdeutschen Kulturangelegenheiten des Bundes verantwortlich. Davor, 1960–67, jugend- und bildungspolitischer Referent beim Parteivorstand der SPD, enger Vertrauter des damaligen stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Waldemar von Knoeringen

 

Erschienen in: FREIHEIT UND RECHT 2007 / 1

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