Ein vergessenes Schicksal

Die Tötung eines DDR-Grenzsoldaten durch seinen Kameraden

Von Hans-Jürgen Grasemann

Zu den Opfern des DDR-Grenzregimes zählen auch Grenzsoldaten, die durch Kameraden bei deren Flucht erschossen wurden. Die für die Täter nach ihrer Flucht zuständig gewordenen westdeutschen Strafgerichte haben zwar ausnahmslos den Grundsatz vertreten, dass ein fremdes Menschenleben nicht der Preis der eigenen Freiheit sein kann und dass einem DDR-Grenzsoldaten, der sich den Weg nach Westen „freischiesst“, nicht von vornherein Notwehr oder Notstand zugebilligt werden kann. Doch wurden auch die persönliche Bedrängnis, Unreife und bisherige Unbescholtenheit im Einzelfall berücksichtigt. Das auch insoweit in jeder Hinsicht tragische Geschehen gehört ebenfalls zur Bilanz des Grenzregimes der DDR.

Einer jener Fälle, die im Gegensatz zur Tötung von DDR-Flüchtlingen durch Anwendung des „Schiessbefehls“ weniger Anteilnahme in der breiten Öffentlichkeit auslösten, geschah 1982 nahe Oebisfelde.

Der damals 19 Jahre alte D., der erst am 26.4.1982 von Halberstadt aus zur 4. Grenzkompanie nach Sommersdorf an die Grenze zur Bundesrepublik Deutschland gekommen war und dort eine konkrete Möglichkeit sah, seine latent vorhandenen Fluchtpläne zu realisieren, verrichtete erstmals am 2.5.1982 Grenzdienst an der Interzonenbahnstrecke gegenüber von Oebisfelde. Die Grenzbegehung sowie dienstliche Unterweisungen und Gespräche mit Kameraden hatten ihm klar gemacht, dass die Grenze dort nicht so hermetisch abgeriegelt war, dass eine Flucht von vornherein aussichtslos erschien. Die Hundelaufanlage war nur teilweise besetzt. Stellenweise waren keine Tretminen vorhanden. Am 3,20m hohen Metallgitterzaun, auf dem oben Stacheldrahtrollen aufgezogen waren, waren keine Selbstschussanlagen (SM 70) montiert. Diese Gegebenheiten sah D. als so günstig und einmalig an, dass er sich entschloss, während des Streifendienstes in der Nacht vom 4./5.5. 1982 in den Westen zu gehen. Sein Streifenführer war der 24 Jahre alte Gefreite K., über dessen politische Einstellung er nichts wusste. Bis zum Einbruch der Dunkelheit hielten sich beide auf dem Beobachtungsturm auf. Jeder von ihnen war ausgerüstet mit einer Maschinenwaffe und einem eingeführten Magazin mit 30 Schuss Munition. Da auf dem Turm die Waffen angelehnt an der Wand standen, kam D. der Gedanke, das Leichtmaschinengewehr des K. aus dem Fenster zu werfen, den so entwaffneten Streifenführer sodann im Turm einzuschliessen und zu fliehen. Er verwarf diesen Gedanken aber wieder, weil er befürchtete, dass ihn der größere und kräftigere Gefreite K. überwältigen würde.

In der anschließend aufgesuchten Erdbeobachtungsstelle überlegte D. weiterhin, wie er seine Flucht ermöglichen könnte. Ihm kam nun die Idee, K. mit vorgehaltener Waffe zu zwingen, seine eigene Waffe niederzulegen. Danach wollte er über eine leere Hundehütte den Metallgitterzaun überwinden. Den Gedanken, wie er sich verhalten würde, wenn K. Widerstand leistete, verdrängte er. Obwohl K. seine Waffe in der Beobachtungsmulde neben sich abgestellt hatte, nahm D. davon Abstand, K. mit vorgehaltener Waffe zu zwingen, ihn nicht an der Flucht zu hindern.

Im Urteil der 2. Strafkammer (Jugendkammer) des Landgerichts Braunschweig vom 20.12.1982 wird das tödliche Geschehen geschildert:

„Er (D.) hoffte, einen anderen Weg finden zu können, bei dem er keine Gewalt anwenden müsste. Er wusste aus Gesprächen mit jungen Leuten der DDR, dass viele von ihnen am liebsten in der Bundesrepublik Deutschland leben würden. Da er den Gefreiten K. nicht als Schleifer oder überzeugten Anhänger des DDR-Regimes kennengelernt hatte, hoffte er, dass K. vielleicht mit ihm fliehen würde. Er fragte deshalb den Gefreiten K. gegen 2.10 Uhr, als er etwa 2 m rechts von ihm stand: ‚Pass auf, kommst Du mit in den Westen ?‘ Die naheliegende Möglichkeit, dass der Streifenführer K. auf diese Worte seiner Pflicht nachkommen und ihn festnehmen könnte, hatte er nach seiner unwiderlegbaren Einlassung bis dahin nicht bedacht. K. gab auf die Frage des Angeklagten keine Antwort. Er sprang hoch, griff zur Waffe, brachte sie in Richtung des Angeklagten in Anschlag und duckte sich in der Mulde ab.

Anhand dieser Bewegungen des Gefreiten K., den er im Licht der Lichterkette in Umrissen erkennen konnte, war dem Angeklagten nun schlagartig klar, dass K. seine Flucht verhindern und ihn festnehmen wollte mit der Konsequenz, dass er dann in der DDR eine lange Freiheitsstrafe zu verbüßen hätte und nicht in den Westen gelangen konnte.

Anhaltspunkte dafür, dass ihn der Gefreite K. entgegen den bestehenden Vorschriften ohne weiteres erschießen würde, hatte er nicht. Er nahm dies auch deshalb nicht an, weil er nicht gehört hatte, dass K. sein LMG schon durchgeladen hatte; denn das Durchladen ist mit einem lauten Geräusch verbunden, das er nicht überhören konnte. Um seiner sicheren Festnahme zu entgehen und K. außerstande zu setzen, seine Flucht zu verhindern, legte der Angeklagte, ehe K. zu weiteren Maßnahmen kam, mit geübten Griffen den Sicherungshebel seiner Maschinenpistole auf Einzelfeuer um, lud durch und drückte ab. Die Waffe mit dem Lauf nach vorn hat er dabei auf den Streifenführer gerichtet. Dieser war für den Angeklagten vom Oberkörper an sichtbar, im übrigen war K. von der Mulde verdeckt. Insgesamt schoss der Angeklagte in schneller Folge 4 Mal auf den Gefreiten K. Zu jedem Schuss musste er erneut abdrücken …“

Der 24-jährige K. verstarb noch am Ort. Gegen D. wurde unmittelbar nach seiner Flucht noch am 5.5.1982 durch das Amtsgericht Helmstedt Haftbefehl erlassen. Die Jugendkammer des Landgerichts Braunschweig, die D. am 20.12. 1982 wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von 5 Jahren verurteilte, hat das Vorliegen niedriger Beweggründe und damit den Straftatbestand des Mordes verneint, weil D. „in Sekundenschnelle den Weg der Ausschaltung des Streifenführers gewählt und seine Waffe gegen ihn eingesetzt“ habe, nachdem er, weil K. zur Waffe griff, sich vor die Alternative gestellt sah, seine Flucht aufzugeben, festgenommen und wegen versuchter Fahnenflucht und versuchter Republikflucht zu langjähriger Freiheitsstrafe in der DDR verurteilt zu werden. Auch das Mordmerkmal der Heimtücke wurde mit der Begründung verneint, dass der Streifenführer nicht in hilfloser Lage überrascht worden sei. Vielmehr sei es K. gewesen, der sein LMG zuerst in Anschlag gebracht und erst dadurch die Entscheidung des D. ausgelöst habe, auf ihn zu schießen. Andererseits wäre K. berechtigt gewesen, D. wegen seiner erkennbar strafbaren Vorbereitung zur Fahnenflucht festzunehmen. Da im Widerstreit zwischen Freiheit und Leben das Leben Vorrang habe, könne sich D. nicht auf einen rechtfertigenden Notstand berufen.

Als straferschwerend hat die Jugendkammer gewertet, dass D. einen Kameraden erschossen hat, der ihm nicht feindlich gesinnt war und mit dem er auf Posten stand. Auch sei ihm mit knapp 20 Jahren die Wertigkeit eines Menschenlebens hinreichend bewusst. Mildernd hat das Landgericht berücksichtigt:

„Der Angeklagte befand sich bei der Tat in einem psychischen Spannungszustand. Er musste seine Entscheidung – Aufgabe der Flucht mit allem Konsequenzen oder Ausschaltung des Streifenführers – in allerkürzester Zeit treffen. Er hat nicht von vornherein vorgehabt, K. zu töten, und er hat dies auch nur mit bedingtem Vorsatz getan.

Dass ein unbescholtener junger Mann eine derart schwere Tat begangen hat, erklärt sich letztlich auch aus der mitten durch Deutschland führenden Grenze. Die DDR-Führung weiß, dass viele, auch gerade junge Leute, sich in ihrem Staat eingeengt fühlen und es ihnen erstrebenswert erscheint, ein Leben in einer freiheitlichen Grundordnung zu führen, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland besteht. Durch die Befestigung ihrer Grenze macht sie es ihnen aber unmöglich, in den anderen Teil Deutschlands zu wechseln. Wenn dann derselbe Staat seine 19- und 20-jährigenMänner, die oft noch unfertig und in ihrem Urteil unausgewogen sind, mit einer Waffe in der Hand an diese Grenze stellt, so führt er manchen geradezu in die Versuchung, die auf einmal so greifbar nahe Grenze unter Umständen auch unter Einsatz der Waffe zu überwinden. Diese Versuchung, mit der nicht jeder fertig wird, kann, wenn ihr jemand unterliegt, so tragisch enden wie im Fall des Postenpaares D. und K.“

In der DDR wurde D. in Abwesenheit am 17.5.1983 vom 1. Strafsenat des Militärobergerichts in Berlin wegen Mordes zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt. Das Braunschweiger Urteil wertete das DDR-Gericht als Versuch, „den Mörder dem ordentlichen Gerichtsverfahren in dem Staat zu entziehen, auf dessen Territorium das Verbrechen geschah, dessen Staatsbürgerschaft das Opfer besaß und dessen Personalhoheit der Täter unterliegt“. Im übrigen sei der Strafausspruch der Jugendkammer in Braunschweig „skandalös niedrig“. Des Weiteren drohten die Militärrichter in Ost-Berlin damit,„dass Mörder von Angehörigen der Grenztruppen die verdiente Strafe trifft, auch wenn sie glauben, sich der Verantwortung entziehen zu können“.

Seit dem Ende des Grenzregimes und seines Staates ist die Gefahr für D. entfallen, Opfer einer Entführung oder gar eines Tötungsplans durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR zu werden – wie in anderen Fällen geschehen.

Zur Bilanz der DDR-Grenzsicherung, die für jedermann der sichtbare Beweis der Exekutierung von Unrecht mit Betonmauern, Stacheldrahtrollen, Metallgitterzäunen, Schießbefehl, Minenfeldern und mörderischen Selbstschussautomaten war, gehören mithin nicht nur die Menschen, deren Flucht im Kugelhagel von Grenzsoldaten tödlich endete, sondern auch die mehr als 20 Grenztruppenangehörigen, die durch eigene Kameraden bei deren Flucht an der Grenze erschossen wurden – wie in der Nähe von Oebisfelde der Gefreite K., der nur 24 Jahre alt wurde.

 

Der Autor: Dr. Hans-Jürgen Grasemann, geb. 1946, ist Oberstaatsanwalt in Braunschweig und war von 1988 bis 1994 stellv. Leiter und Sprecher der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter. Er verfasste zahlreiche Abhandlungen und hielt viele Vorträge zur deutschen Diktaturvergangenheit von 1933 bis 1989. Seit 2006 ist er Vorsitzender des Vorstandes des Trägervereins der Politischen Bildungsstätte Helmstedt e.V.

 

Erschienen in: FREIHEIT UND RECHT 2007 / 1

 

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