Reaktionäre unter falscher Flagge
Anatomie einer Partei der Verdrängung und Demagogie: „Die Linke“
Interview mit dem Politologen und Historiker
Waldemar Ritter
Dr. Waldemar Ritter ist Vorstand des Deutschen Politologenverbandes und war über 25 Jahre für die innerdeutschen Kulturangelegenheiten des Bundes verantwortlich. Davor war er jugend- und bildungspolitischer Sprecher des SPD-Parteivorstandes, bis er auf nachdrücklichen Wunsch Herbert Wehners zentrale deutschlandpolitische Aufgaben im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen übernahm. Die Redaktion sprach mit dem Autor grundlegender Bücher und einer Vielzahl wissenschaftlicher und politischer Veröffentlichungen über eine spannende zeitgeschichtliche Entwicklung, die bis heute nichts an politischer Aktualität verloren hat.
FREIHEIT UND RECHT (FuR): Herr Ritter, vorab einige Fragen zum bisweilen rätselhaften Verhalten von Teilen unserer demokratischen Gesellschaft, von vielen Leuten, die gar nichts am Hut haben mit den Postkommunisten, mit den Linksextremisten, mit den gut versorgten Stasi-Rentnern und auch nicht mit der Partei, die sich jetzt „Die Linke“ nennt: Wozu dieses Schönreden, wozu das Gesundbeten nach dem Motto: Die Linkspartei, vorher die PDS, sei „eine ganz normale Partei wie jede andere“? Wozu diese opportunistische Bonhomie? Wozu auch dieser nachträgliche Verrat an denen, die 1989/90 die Revolution in der DDR gemacht haben und vorher den Widerstand bildeten?
Ritter: Max Frisch lässt in seinem 1958 uraufgeführten Stück „Biedermann und die Brandstifter“ den Chor singen:
„Blinder als blind ist der Ängstliche,Zitternd vor Hoffnung, es sei nicht das Böse, Freundlich empfängt er´s, Wehrlos, ach, müde der Angst, Hoffend das beste... Bis es zu spät ist.“
FuR: Manchmal sagt´s der Dichter viel treffender als jede wissenschaftliche Analyse, aber wir müssen uns eine genauere Diagnose unserer eigenen Schwachstellen im Umgang mit den Gegnern und Feinden der offenen Gesellschaft wohl noch aufsparen. Sie, Herr Ritter, weisen immer wieder auf das besondere Moment, die besondere Aufgabe der deutschen Gegenwart und Zukunft hin. Was unterscheidet uns von anderen?
Ritter: Wie kein anderes Land Europas hat Deutschland den Nationalsozialismus und den Kommunismus, den „real existierenden Sozialismus“, durchlebt – zusammen 56 Jahre! Die Deutschen damals haben die Nazis an die Macht gelassen, damit den 2. Weltkrieg ausgelöst und die Shoah ermöglicht. Anschließend war unser Land 44 Jahre lang geteilt: Die Diktatur der SED in der DDR und die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Wir müssen diese Summe an Erfahrung unverstellt wahrnehmen und uns damit auseinander setzen. Nur so können wir Aufklärung und die demokratische Zukunft Deutschlands und Europas weiter befördern. Aus der Verantwortung für die Vergangenheit erwächst Verpflichtung für die Zukunft .
FuR: Am letzten Tag der DDR, am 2. Oktober 1990, haben Sie ein stundenlanges Gespräch mit dem Dramatiker Heiner Müller geführt. Worum ging es?
Ritter: Ja, zuerst um die „Kulturhoheit“ der Länder. Müller hat bedächtig Zigarre geraucht, ich habe mich darüber gefreut, dass es das erste mal in Deutschland eine große erfolgreiche Revolution gegeben hat. Eine Revolution für die Freiheit und Einheit. Eine Revolution gegen die SED und gegen ihre totalitäre Diktatur in der DDR. Wir haben uns an Bert Brecht und den Aufstand in der DDR am 17. Juni 1953 erinnert – Brecht, der damals der SED ironisch als Lösung vorgeschlagen hatte, „die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes“ – und wir haben gesprochen über Karl Marx und seine Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: „Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“, wenn es darum geht, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ Zutreffender, so habe ich damals dem nachdenklichen Heiner Müller gesagt, hätten die Zustände in der DDR und der unabweisbare Ruf nach Freiheit und Einheit als die entscheidenden Gründe für die Revolution in der DDR nicht beschrieben werden können.
FuR: Welche Verhältnisse meinen Sie?
Ritter: Ich meine wie Marx alle Verhältnisse. Nicht nur die totalitäre Diktatur. Nicht nur die SED als Staatsorgan in Artikel 1 der DDR Verfassung. Nicht nur das nicht rechtsstaatliche, das antidemokratische, das Menschen verachtende Regime. Auch nicht nur die eifrig angestrebte Beteiligung der Nationalen Volksarmee der DDR an der Niederschlagung des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ in der CSSR. Auch nicht nur die Selbstschussanlagen gegen das eigene Volk. Den Abgrund zwischen dem Propagandabild der SED und dem realen Leben in der DDR konnten nur jene übersehen, die entweder weg geschaut hatten oder die Gartenzwergidylle potemkinscher Dörfer für die Erfüllung ihrer Illusionen hielten. Die bereits 1957 von Ulbricht auf dem SED-Parteitag verkündete Überlegenheit ihres Sozialismus, die Verkündung, den westlichen Lebensstandard binnen vier Jahren zu übertreffen, „überholen ohne einzuholen“, zeigt die unglaubliche Diskrepanz zwischen populistischem Anspruch und der eigenen Wirklichkeit, zwischen verkrampfter Utopie und einem Gewaltsystem, das die Mauer baute. Der „real existierende Sozialismus“ – so hat die SED Zustand und System der DDR bezeichnet – hat von der Substanz gelebt und einen Teil Deutschlands zugrunde gerichtet. Marx hatte insofern Recht, dass vor der Revolution die Verelendung ist. „Ruinen schaffen ohne Waffen“ war eine durchaus realistische Beschreibung der Lage in der DDR.
Es ist eine dreiste Zumutung, wenn diejenigen, die mit ihrer ruinösen Politik auf dem Rücken der Bevölkerung in der DDR solche Zahlungen heute erst erforderlich gemacht haben, jetzt wieder den sozialen Lehrmeister spielen möchten.
Die SED hat die DDR bis zum Staatsbankrott herunter gewirtschaftet. Um die verheerenden Folgen der SED-Politik auszugleichen, haben wir seit der Wiedervereinigung über 1,5 Billionen Euro in die neuen Bundesländer gesteckt. Ein Blick auf die Zahlen des Statistischen Bundesamtes genügt: Die über 1,5Billionen Euro Schulden der Bundesrepublik Deutschland entsprechen exakt der Summe, die Deutschland seit der Wiedervereinigung für den Aufbau Ost und die Entwicklung der Infrastruktur in den ostdeutschen Ländern geleistet hat. Allein die daraus resultierenden Schuldzinsen, die wir alle dafür auf bringen – das sind jährlich 60 Milliarden Euro – reichten aus, um die populistischen Phrasen der „Linken“, also der wiederholt umbenannten SED, ad absurdum zu führen. Ohne diese Schuldzinsen könnten wir ohne Steuererhöhung und in Anbetracht der knapp 430 Milliarden Schulden, die die alte Bundesrepublik bis 1989 hatte, die Ausgaben des Bundes für Investitionen in Bildung, Forschung und Wissenschaft, die Rentenerhöhung, das Kindergeld und alle Krippenplätze verdoppeln, und zwar auf immer. Stattdessen werden unsere Kinder und Enkel für dieses SED-Erbe zusätzlich zu den Zinsen jährlich 13 Milliarden Euro ein ganzes Jahrhundert lang zurückzahlen müssen. Auch so entschädigt unser Sozialstaat für die systemimmanente Ausbeutung durch die SED-Politik. Es ging von Anfang an und in allen Lebensbereichen um die desaströsen Folgen der SED-Politik Diese Zahlungen sind notwendig und richtig. Es ist eine dreiste Zumutung, wenn diejenigen, die mit ihrer ruinösen Politik auf dem Rücken der Bevölkerung in der DDR solche Zahlungen heute erst erforderlich gemacht haben, jetzt wieder den sozialen Lehrmeister spielen möchten.
FuR: Sie haben die widerrechtlichen Vermögenstransfers der SED ins Ausland, ausländische Schwarzgeldkonten und die Gründung von Tarnfirmen gar nicht erwähnt, obwohl hier Milliarden an Volksvermögen den Menschen in den Neuen Bundesländern gestohlen wurden.
Ritter: Dieser Skandal wäre eine eigene Betrachtung wert. Die Herren Gysi und Bisky haben 1998 den Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages sabotiert und, wie es in dem Bericht des Ausschusses heißt, „... durch die geschlossene Aussageverweigerung der im Jahre 1990 – und größtenteils auch heute noch – Verantwortlichen der PDS in geradezu konspirativer Art und Weise behindert“. Ich verstehe bis heute nicht, warum diese Herrschaften nicht in Beugehaft genommen werden.
FuR: Es gibt Stimmen, die behaupten, das Soziale aber sei in der DDR ganz gut gewesen.
Ritter: Das sind Leute, die die Wirklichkeit der DDR nicht zur Kenntnis genommen haben. Die erbärmlichen Arbeitsbedingungen, die unglaubliche Ausbeutung der Arbeiter – von der Normenerhöhung der Bauarbeiter, die zum Aufstand des 17. Juni 1953 führte, über die Mondlandschaft um Bitterfeld bis zum Uranabbau der Wismut einschließlich der heute kaum noch vorstellbaren Verseuchung von Umwelt und Natur bis zu den jämmerlichen Altersrenten und dem miserablen Lebensstandard der Bevölkerung – sind noch nachträglich eine Beleidigung und Verhöhnung der Menschen, die unter der Diktatur der SED in der DDR leben mussten. Zutreffend ist, dass vor dem Hintergrund ökonomisch nicht wettbewerbsfähiger Strukturen selbst die vielen unproduktiven Arbeitsplätze sicher waren, wenn man nicht gerade einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Doch um welchen Preis? Um den Preis der Abkoppelung der DDR-Wirtschaft von der sich rasch entwickelnden Weltwirtschaft und damit um den Preis des wirtschaftlichen Niedergangs. Das gleiche würde ganz Deutschland in Zukunft blühen, wenn wir den Plänen der SED-Nachfolger, der heutigen Linkspartei, folgten. Es reicht ihnen offensichtlich nicht, schon einmal eine ganze Volkswirtschaft ruiniert zu haben. Es sind Wiederholungstäter.
FuR: Ich möchte noch einmal auf das Soziale zurück kommen. Können Sie dazu Beispiele sagen?
Ritter: An dieser Aufgabe sollten sich einmal Sozialhistoriker verdient machen. Ich habe es noch im Frühjahr 1990 selbst gesehen, wie sogar im Vorzeigebetrieb des Lastkraftwagenwerkes Ludwigsfelde die Arbeiter barfuß in der giftigen Farbbrühe der Lackiererei standen. Wie das dort aussah, so habe ich mir den schlimmsten Manchesterkapitalismus des 19. Jahrhunderts vorgestellt. Aber zurück zu Ihrer Frage, wie war das Soziale in der DDR. Ist es sozial, wenn es kein Streikrecht und keine freien Gewerkschaften gibt? Ist es sozial, wenn Arbeiter für viele Waren stundenlang anstehen mussten? “Sozialistische Wartegemeinschaft“ nannte man das in der DDR. Sind niedrige Preise sozial, wenn die Regale leer sind? Ist es sozial, wenn im „Arbeiter- und Bauernstaat“ die besseren Produkte nur Devisenbesitzer kaufen konnten, weil das DDR-Geld nichts wert war? Wenn Schichtarbeiter nur alle sieben Jahre damit rechnen konnten, in einem Gewerkschaftsheim an der Ostsee Urlaub zu machen? Wenn die damaligen Löhne niedriger waren als die heutigen Renten? Wenn die „Bevölkerungsintensivhaltung“ in herunter gekommenen Häusern oder Plattenbauten den selben Quadratmeterpreis kosteten, wie das Wohnen in den besten Villen der Privilegierten? Wenn in den Krankenhäusern Sieben- oder Achtbettzimmer keine Seltenheit waren? Wenn in der DDR noch sechs Tage in der Woche gearbeitet wurde, als im Westen die Metaller schon auf dem Weg zur 35-Stunden-Woche waren? Und ist es sozial, wenn der Lebensstandard in der DDR nur ein Drittel von dem der alten Bundesrepublik ausmachte und die durchschnittliche Lebenserwartung drei Jahre niedriger war? Und wenn für SED-Funktionäre und andere Privilegierte alles ganz anders war? Es ist nicht hinnehmbar, dass diejenigen, die gestern die Menschen über zwei Generationen lang betrogen haben, sich heute in das soziale Moralfenster stellen.
FuR: Sie waren vor und nach der Wiedervereinigung für deutschlandpolitische Grundsatzfragen und die innerdeutschen Kulturangelegenheiten des Bundes verantwortlich. Waren die Dinge der Kultur besser?
Ritter: Die DDR hat überall von der Substanz gelebt. Der Bund hat allein in den ersten vier Jahren nach der Wiedervereinigung fünf Milliarden DM für die Rettung der kulturellen Substanz und die Entwicklung der kulturellen Infrastruktur in den neuen Bundesländern zusätzlich zur Verfügung gestellt. Die geistige Enge der DDR, die Banalität der infamen SED-Diktatur, die repressive Indoktrination der Bevölkerung, waren wie der parteikonforme „Sozialistische Realismus“ - der mit dem Begriff Realismus nicht in Verbindung gebacht werden kann - und die Unterdrückung der Andersdenkenden nur unterschiedliche Seiten in einem perfi den System. Die Knebelung der Kunst und Kultur durch Zensur der Presse, der Literatur, der Musik, des Theaters und des Films, des Rundfunks und des Fernsehens ist nur mit der Unterdrückung des Geistes durch die Nazis zu vergleichen. Wie in der Nazidiktatur waren in der DDR alle Medien regimekritischen Inhalts prinzipiell verboten. Wir sollten auch nicht vergessen, dass Kinder und Jugendliche in der DDR aus politischen Gründen von weiterführenden Schulen oder Universitäten ausgeschlossen wurden. In der einst berühmten Berliner Humboldt-Universität, die bis 1956 immerhin 29 Nobelpreisträger hervorgebracht hat, gab es danach keinen mehr.
FuR: Und was ist Ihre Generalaussage?
Ritter: Es sind nicht nur die materiellen, es sind die geistigen, die moralischen und seelischen Verwüstungen, die der Nationalsozialismus der NSDAP- und der „real existierende Sozialismus“ der SED-Diktatur in Deutschland hinterlassen haben.
FuR: Was bedeutet das für unsere Gegenwart und Zukunft?
Ritter: Es bedeutet, dass wir aufpassen müssen auf das, was sich heute alles als „Links“ bezeichnet; dass wir die Dinge beim richtigen Namen nennen sollten, vor allem die rückwärts gewandte und reaktionäre Linkspartei, die politische und moralische Rechtsnachfolgerin der SED. Dass wir aufpassen müssen, was diese Leute schon in der DDR gesagt und im Gegensatz dazu getan haben. „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!“ sagte Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 in Ostberlin, zwei Monate später wurde sie gebaut. Erich Honecker erklärte vor dem Hintergrund eines längst zusammen gebrochenen Wirtschafts- und Politsystems noch 1989, dass die DDR zu den „leistungsfähigsten Industrienationen der Welt“ gehöre. Und es gab im Westen Leute, die das auch noch glaubten oder glauben wollten. Im selben Jahr erklärte der Chef eines der größten Spitzel- und Unterdrückungssysteme der Welt, der Stasichef Erich Mielke, in der Volkskammer: „Ich liebe doch alle – alle Menschen.“ Und für den Linksparteichef Lothar Bisky ist auch 2007 „nicht belegt“, dass es „einen generellen Schießbefehl“ gab. Ebenfalls im August 2007 behauptete der Ex-SEDParteichef Egon Krenz: „Es hat einen Tötungsbefehl oder – wie Sie es nennen – Schießbefehl nicht gegeben.“ Im März 2008 erklärt derselbe Krenz: „Ich habe nie gesagt, dass es in der DDR keinen Schießbefehl gab. Ich habe nur gesagt, dass es keinen Tötungsbefehl gab“. Bis in die 70er Jahre „stand in unseren Anordnungen, dass Grenzverletzer zu vernichten sind.“ Wenn diese Partei mit den häufig wechselnden Namen heute wieder von „Freiheit durch Sozialismus“ spricht, dann sollten wir uns erinnern: der Toten an Mauer und Stacheldraht, der Toten und Gefolterten in den DDR-Gefängnissen, der an ausländischen Grenzen erschossenen ostdeutschen Flüchtlinge, für die die DDR Kopfprämien gezahlt hat, der 250 000 politischen Gefangenen in der DDR, einschließlich der 33 755 politischen Häftlinge, die von der Bundesregierung zwischen 1963 und 1989 für 3,5 Milliarden DM frei gekauft wurden und der Gesamtheit der 17 Millionen Menschen, die lediglich Reisefreiheit, Wahlfreiheit oder Meinungsfreiheit für sich in Anspruch nehmen wollten. Das sollte niemand vergessen. Ich bin sehr bedrückt wegen der bei vielen Journalisten, Politikern und Lehrern beklagenswert dürftigen historischen, zeitgeschichtlichen und politischen Bildung.
Hier geht es nicht um geistige Schattenparker oder um tagespolitische Schnittmengen – die sind ohnehin zwischen NPD und Linkspartei am größten.
FuR: Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Diskussionen in der Sozialdemokratischen Partei?
Ritter: Geschichts- und verantwortungsbewusste Sozialdemokraten werden die SED, die Liquidierung der SPD im Wege der Zwangsvereinigung, die 44-jährige DDR-Diktatur, Mauerbau, Schießbefehl, Stasi und Ermordung von 2220 Sozialdemokraten in Bautzen nicht vergessen. So etwas darf niemand relativieren! So etwas darf sich nie wiederholen. Sich an die deutsche Geschichte nachhaltig zu erinnern und daraus die unabweisbaren Schlussfolgerungen für die Zukunft zu ziehen, ist und bleibt eine Frage der Gesinnungs- und der Verantwortungsethik. Hier geht es nicht um geistige Schattenparker oder um tagespolitische Schnittmengen – die sind ohnehin zwischen NPD und der Linkspartei am größten. Hier geht es um Grundsatzfragen der Demokratie , um die Zukunft unseres Landes und Europas, um unser Grundgesetz und um die Unteilbarkeit unserer Grund- und Menschenrechte, die der Staat nicht zu gewähren, sondern zu schützen hat. Regierungsmacht, das heißt auch Koalitionen um der sogenannten Macht willen, ist nichts wert! Sie ist im Gegenteil politische Ohnmacht, wenn sie dazu führt, gegen eigene unverrückbare Grundsätze und zentrale Ziele zu stimmen, wie das durch das Abstimmungsverhalten Berlins gegen Europa im Bundesrat am 23. Mai 2008 geschehen ist.
FuR: Wie viel SED steckt in der Linkspartei?
Ritter: Zunächst einmal: Ich möchte den Namen, den sich diese Partei gegeben hat, in Frage stellen. Genau so wie sie damals in der DDR den Sozialismus, danach den demokratischen Sozialismus für sich monopolisieren wollte, will sie das heute mit dem Begriff „links“ machen. Diese leninistische Anmaßung sollte ihr niemand durchgehen lassen. Der Begriff „reaktionäre Linksaußenpartei“ oder „SED-Fortsetzungspartei“ wäre angemessen. Von den 2,3 Millionen Mitgliedern der SED sind nach 1990 über 95 Prozent ausgetreten. Geblieben sind jene, die mit der SED-Diktatur der DDR besonders verbunden waren. Es ist auch bezeichnend, dass 70 Prozent der Linkspartei-Mitglieder über 60 Jahre alt sind. Diejenigen, die in der Partei „Die Linke“ das Sagen haben, sind frühere Funktionäre der SED. Es ist auch kein Zufall, dass viele Funktions- und Mandatsträger der Linkspartei im Westen früher oder noch immer Organisationen und Parteien wie DKP der DFU in der alten Bundesrepublik gemanagt haben, die von der SED finanziert wurden. Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Hessischen Landtag, Willi van Ooyen, war Landes- und Bundesgeschäftsführer der DFU, die von Honeckers SED Jahrzehnte lang mit Millionenbeträgen finanziert wurde. Noch im Revolutionsjahr 1989 hat bemerkenswerter Weise die „Verkehrsabteilung“ des SED-Zentralkomitees auf Antrag des westdeutschen DKP-Vorsitzenden 3,1 Millionen DM für 31 Mitarbeiter der „Deutschen Friedensunion“ bezahlt. Das passt zu Stasileuten und deren Unterstützern sowie den Verharmlosern der SED-Diktatur. Die Einlassungen vor und nach der hessischen Landtagswahl haben dies noch einmal beleuchtet: „Die Linke“ hat eine Mitgliederstruktur, die eine verantwortliche Regierungsarbeit unmöglich macht. Offiziell lehnt die Linkspartei die demokratiefeindlichen Auffassungen orthodoxer Kommunisten ab, aber sie duldet diese Strömungen in der Partei als legitime Ausdrucksformen ihres Politikverständnisses. Wenn „die Linke“ sich auf dem Boden des Grundgesetzes wähnt, muss sie erklären, warum ihr Vorsitzender Bisky reaktionär die „Systemfrage“ stellt. Die Systemfrage hat das Volk in der DDR gegen die SED gestellt und mit der ersten erfolgreichen Revolution in Deutschland für das Grundgesetz entschieden. Die unabdingbare Verbindung von Demokratie und Freiheit ist in der Linkspartei nicht geklärt. Auf dem Vereinigungsparteitag der „Linken“ hieß die Parole „Freiheit durch Sozialismus“, also „Sozialismus“ als Voraussetzung für die Freiheit. Das ist nichts anderes als eine Umschreibung der durch die grausame Geschichte des vorigen Jahrhunderts widerlegten marxistisch-leninistischen Ideologie von der Diktatur des Proletariats. Die reaktionäre Linkspartei hat sich im Grunde nicht von der SED-Ideologie gelöst.
FuR: Sie haben vor 45 Jahren über den ersten Nachkriegsvorsitzenden der SPD, Kurt Schumacher, die erste wissenschaftliche Arbeit geschrieben. Mit Willy Brandt haben Sie in Aachen den „Europa-Grundstein des Friedens“ gelegt. Vor kurzem sagten Sie, dass es genügend Aussagen dieser beiden großen Sozialdemokraten gibt, die auch auf die heutige Linkspartei zutreffen.
Ritter: Kurt Schumacher, der elf Jahre in den KZ der Nationalsozialisten geschunden wurde, bezeichnete schon 1930 die Kommunisten als „rotlackierte Nazis.“ Und in seiner berühmten Reichstagsrede von 1932 die nationalsozialistische Agitation als „den dauernden Appell an den inneren Schweinehund im Menschen“. Willy Brandt nannte Oskar Lafontaine „eine gelungene Mischung aus Napoleon und Mussolini“. Wenn man die Aussagen in nicht unwichtigen, manchmal durchaus strittigen Politikfeldern des 2005 verstorbenen Rechtsaußen-Populisten Franz Schönhuber und des NPD-Vorsitzenden Udo Voigt einerseits und des „Linken“-Chefs Oskar Lafontaine andererseits vergleicht, kommt man zu mittlerweile nicht einmal mehr überraschenden nahezu wörtlichen Übereinstimmungen. Leider habe ich hier zu wenig Gelegenheit um das zu präzisieren. Aber: Ob mangelnder Internationalismus, Antiamerikanismus oder Globalisierung, ob Antiterrorkrieg oder Bundeswehr, ob soziale Gerechtigkeit oder Hartz IV, selbst Worte wie „Fremdarbeiter“ sind häufig die gleichen. Lafontaine sagt: „Hartz IV muss weg. Das ist Armut per Gesetz.“ Der NPD-Chef Voigt erklärt: „Soziale Gerechtigkeit existiert nicht. Hartz IV ist Armut per Gesetz.“ Der Vorsitzende und der Generalsekretär der NPD begrüßen denn auch ganz offen Lafontaines Positionen. Es ist die Verbindung zwischen Realitätsblindheit und scheinsozialem Populismus der Linkspartei, die Illusionen weckt. Das ist Gift nicht nur für die Außen- und Sicherheitspolitik, es ist ebenso Gift für die Wirtschafts-, Finanz und Sozialpolitik. Wer allen alles verspricht, betrügt alle Menschen. Er betrügt vor allem alle arbeitenden Menschen, von deren Leistung alle leben und er betrügt die kommenden Generationen. Es ist das Gegenteil von Gerechtigkeit, wenn wir in einem Akt der Selbsthypnose weiter auf Pump und auf Kosten der Zukunft, auf Kosten unserer Kinder und Enkel alles „gerecht“ verfrühstücken.
Willy Brandt: Lafontaine ist eine gelungene Mischung aus Napoleon und Mussolini.
FuR: Und wie beurteilen Sie geschichtsphilosophisch „Die Linke“?
Ritter: Der Linkspartei fehlt die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Der selektiv verdrängten Vergangenheit entspricht heute die selektive Wahrnehmung und Anwendung der Menschenrechte. Wer für die universelle Geltung der Menschenrechte eintritt, deren Verletzungen in „sozialistischen“ Ländern aber nicht verurteilt, hat die Mindeststandards von Freiheit und Demokratie nicht verinnerlicht. Dazu passt, dass der Europaabgeordnete der PDS André Brie von seinem Parteivorstand für die Feststellung gemaßregelt wurde, die PDS „habe trotz vieler Erklärungen kein wirkliches Verhältnis zu den Menschenrechten entwickelt.“ Die Partei „Die Linke“ ist das Gegenteil von Aufklärung, Fortschritt und Zukunft. Sie hat bis jetzt kein eigenes Programm. Sie hat auch keine optimistische Zukunftsvision. Sie kann - wie beim Fall der Mauer - nicht einmal vorhersagen, wie spät es in einer Stunde sein wird. Sie reagiert nur, populistisch, demagogisch und nach rückwärts gewandt. Sie bedient sich der ursprünglich aus der wilhelminischen Ära stammenden antiwestlichen, antiliberalen und antisozialdemokratischen Vorurteile. Dem entspricht das Antiverhältnis der Linkspartei zu Europa, die nicht auf Gestaltung, sondern auf Negierung ausgerichtete Propaganda gegen die Globalisierung und ihr problematisches Verhältnis zur internationalen Solidarität. „Die Linke“ treibt nicht die Geschichte, sondern stemmt sich der Geschichte entgegen. Die ihr verwandten Parteien sind in allen europäischen Ländern zu unbedeutenden Fußnoten der Zeitgeschichte geworden. Die Linkspartei merkt nicht einmal, dass ihre „Gespenster“ der Vergangenheit tote Gespenster sind, deren Gefahr einzig und allein aus dem Verwesungsgeruch dieser Gespenster entsteht. Das alles sind typische Markenzeichen reaktionärer Parteien. Wer die Fragen unserer Zeit beantworten will, kann nicht in den Kategorien des vorletzten Jahrhunderts denken. Keines der großen Probleme, vor denen wir in Deutschland und in Europa stehen, vor denen die Menschheit des 21. Jahrhunderts steht, kann mit Schleiertänzen und Unklarheiten zu Freiheit und Gleichheit, zu Gleichbehandlung, zu Leistungsgerechtigkeit und Chancengleichheit, zu Wahrheit und Vernunft oder mit beliebigen, das heißt mit undefinierten Gerechtigkeiten gelöst werden. Im Gegensatz zu „Links“-Ideologen stand Willy Brandt für individuelle Freiheit, Aufklärung und Menschenwürde. Am Ende seines Buches „links und frei“ brachte er zum Ausdruck, woran sich künftige Politik orientieren sollte:„Es bleiben Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als Orientierungspunkte, doch soll der Zweifel höher stehen als die Doktrin, doch soll die Würde des Einzelnen mehr gelten als unbotmäßiges Verlangen der Partei.“ Wer damit Schwierigkeiten hat, sollte sich mit den Lehren unserer Zeitgeschichte auseinandersetzen und damit, dass es keinen Schlussstrich in der Geschichte gibt: Weder für den Nationalsozialismus im Dritten Reich noch für den „real existierenden Sozialismus“ der SED in der DDR. Weder für NPD und DVU noch für die Linkspartei. Parteien, die keine Verantwortung für ihre eigene Geschichte übernehmen wollen, sollten auch keine Verantwortung für andere Menschen in unserem Land übernehmen. Wer nichts aus der Geschichte lernt, wird sie wiederholen. Wer sich nicht von totalitären und antidemokratischen Wurzeln überzeugend trennen will, ist ein Negativfaktor in unserer Zivilgesellschaft und eine Gefahr für Freiheit und Demokratie in unserem Land. Wenn Lafontaine frech behauptet, „der Wind der Geschichte“ sei mit ihnen, so zeugt das von einer Vermessenheit, die wir seit über 60 Jahren nicht mehr erlebt haben, als ein anderer Herr behauptete, die „Vorsehung“ sei auf seiner Seite.
Parteien, die keine Verantwortung für ihre eigene Geschichte übernehmen wollen, sollten auch keine Verantwortung für andere Menschen bekommen.
FuR: Gibt es denn in der Linkspartei Kräfte, die nicht nur die gleiche Gesinnung haben, sondern auch zu den gleichen Methoden greifen wie die SED-Diktatur?
Ritter: Schauen sie sich die in Niedersachsen, Hamburg und Hessen auf der Liste der Linkspartei gewählten Abgeordneten einmal etwas genauer an. Das sind keineswegs die viel zitierten „Schmuddelkinder“, auch kaum die frustrierten Gewerkschafter, denen die Mitglieder weg gelaufen sind. Ihre Sprache wird frostig, wenn es um ihre Vergangenheit und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für die Zukunft geht. Die Kader der West-„Linken“ entstammen vor allem der DKP sowie deren Tarnorganisationen bis hin zu Stamokapgruppen, wie z.B. die von der Fraktion inzwischen ausgeschlossene, aber im Landtag verbliebene niedersächsische Abgeordnete Christel Wegner (DKP), die nach der Wahl dann doch öffentlich verraten hat, dass ein „Organ“ wie die Stasi der DDR in Zukunft eventuell „wieder gebraucht“ werde und dass der Bau der Mauer als legitime Maßnahme der DDR zu rechtfertigen sei. Bert Brecht schrieb kurz vor seinem Tod in der „Kriegsfibel“, was vor diesem Hintergrund heute auch wieder gültig ist:
„Das da hätt‘ einmal fast die Welt regiert, die Völker wurden seiner Herr. Jedoch – ich wollte, dass ihr nicht schon triumphiert:Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.
Erschienen in: FREIHEIT UND RECHT 2008 / 1 + 2