Nationalsozialismus und Kommunismus als politische Religionen?
von Evelyn Völkel
„Händchen falten, Köpfchen senken und lieb an den Führer denken, der uns Arbeit gibt und Brot und uns führt aus aller Not.“ Mit diesen Worten auf den Lippen wuchsen viele deutsche Kinder in den Jahren des „Dritten Reiches“ heran. Wer sollte dieser „Führer“ Hitler für sie sein? Ein Pater Patriae, ein Prophet, ein Messias? Auf jeden Fall mehr als ein einfacher Politiker. Das Gebet vermittelt eines sehr deutlich: Der „Führer“ Hitler sei ein so besonderer Mann, dass ihn die Deutschen in ihre Gebete einschließen und demütig seiner gedenken sollten. Hitler und seine Gefolgsleute versprachen ihnen dafür ein „Drittes Reich“, das an Glanz und Glorie alles Bisherige in den Schatten stelle. Der deutsche Arier komme dort endlich bei sich, das heißt bei seiner auserwählten gottähnlichen Natur an. Im Namen eines grausamen, aber gerechten Naturgottes, der sich in der Geschichte offenbare, müsse die arische Rasse den irdischen „Endsieg“ erkämpfen. Der Jude, eine Reinkarnation des Bösen, sei dafür ebenso zu vernichten wie Sinti und Roma, Homosexuelle und andere Opfergruppen. Behinderte waren schlichtweg „Fehlchargen der Natur“ und für das tausendjährige Reich nutzlos, ja gar hinderlich – auch sie mussten beseitigt werden. Ein religionsähnlicher Aspekt wird in der nationalsozialistischen Ideologie und ihrem Führerglauben deutlich. Doch nicht nur dort. In der DDR, im „sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat“, postulierte Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 in Berlin die 10 Gebote, die neuen 10 Gebote der sozialistischen Moral und Ethik – ein jedes mit „Du sollst“ eingeleitet. Die Absicht dahinter versteckt sich nicht: Der Dekalog des Alten Testaments, der fast 2 500 Jahre Gültigkeit beanspruchte, sollte abgelöst werden. Er sei alt und überholt, etwas Neues müsse formuliert werden. Die Kommunisten verheimlichten ihre blutig-revolutionären Ziele nicht, denn sie waren viel zu stolz darauf. Schließlich erstrebten sie das Paradies auf Erden für den sozialistischen, besseren Menschen – von ihrer Menschenhand geschaffen. Die äußerliche Ähnlichkeit zu den klassischen Religionen zeichnet sich im Marxismus-Leninismus, trotz seines unmissverständlichen Atheismus, besonders deutlich ab. Für ihn stehen die Antworten auf letzte Sinnfragen, die Erklärung der Welt und die Überwindung des Bösen im Mittelpunkt seiner Lehre. Alles in dieser Welt folge den historischen Gesetzmäßigkeiten, die einige wenige Menschen erkannt zu haben meinten, allen voran Karl Marx. Am Ende der Geschichte erwarte den Menschen die kommunistische End-Gesellschaft, in der sich alle gesellschaftlichen Spannungen auflösten. Dieses Ziel vermöge der neue, sozialistische Mensch zu erreichen. Ein Mensch, der endgültig emanzipiert ist von allem, was ihn in seiner freien Entfaltung einschränkt. Trotzki formulierte es mit den Worten: „Man will be incomparably stronger, more intelligent, and finer: his body will be more harmonised, his movements more rhythmic and his voice will become more musical. The average human type will be raised up to the level of Aristotle, Goethe and Marx. And over this mountain chain new peaks will come into view." Wer die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts als politische Religionen versteht, gewinnt einen schärferen Blick auf das Wesen totalitärer Staaten. Er vermag viele Prozesse sowie ideologische Ansprüche in der politischen Wirklichkeit besser nachzuvollziehen. Die gnadenlose Hetzjagd auf die Oppositionellen wird in ihrer Radikalität verständlicher, der Umgang mit Renegaten und die Ähnlichkeit zur Verfolgung von Glaubensabtrünnigen durch die Kirche erklärbarer – eben durch den ideologischen Anspruch des Nationalsozialismus und des Marxismus-Leninismus, die letztgültige Wahrheit erkannt zu haben und eine unbedingt bessere Gesellschaft in dieser Welt aufzubauen. Durch das Ziel, eine neue vollkommene Gesellschaft, hier, im Diesseits, zu etablieren, wird die Rolle der Politik ebenfalls in ihrer besonderen Stellung klarer. Die Politik, angeleitet von ideologischen Vorgaben, steigt zum Erfüllungsgehilfen der historischen Gesetzmäßigkeiten auf. Die Ideologie gibt, gleich einer Utopie, die Direktiven für die Politik vor, und diese sind präzise und gnadenlos formuliert. Der revolutionäre Anspruch totalitärer Ideologien bedeutet nichts Geringeres als einen Frontalangriff auf das christlich-humanistische Erbe des Abendlandes, das unsere Demokratie und unsere Vorstellung von der Würde eines jeden Menschen hervorgebracht hat. In der Demokratie ist der Mensch nicht für den Staat da, sondern der Staat für den Menschen. In totalitären Diktaturen hingegen dienen der Staat wie auch der Einzelne den Zielen einer Ideologie, die einige wenige Menschen formuliert haben und die sie im Namen eines Kollektivs durchzusetzen versuchen. Da es sich um – angeblich – höhere Ziele handelt, dürfe auf einzelne Opfer keine Rücksicht genommen werden: In der totalitären Diktatur ist die Würde des Individuums antastbar.Blicken wir noch mal auf die 10 Gebote des neuen sozialistischen Menschen. Es ist mit Sicherheit kein Zufall, dass Walter Ulbricht, der in der Sowjetunion bei Stalin in die Lehre ging, einen Rahmen für seinen Sozialismus sucht, der Assoziationen mit dem Geltungsanspruch der 10 Gebote der Bibel weckt. Das Weglassen von Gott verdeutlicht die Botschaft: Eine sozialistische Gemeinschaft braucht keinen (jüdisch-christlichen) Gott mehr, um besser zu werden. Sie kann die 10 Gebote der jüdisch-christlichen Überlieferung aus einer alten Zeit hinter sich lassen. Vor ihrer Erfüllung müsse sie nur die kapitalistische Klasse beseitigen und die permanent drohende Konterrevolution verhindern.Die religionsphänomenologischen Ähnlichkeiten zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus sind offenkundig. Wer nicht den Arier-Nachweis zu erbringen vermochte, war mehr als nur verdächtig. In den Augen überzeugter Nazis hatte er kein Recht auf die Zugehörigkeit zur vielgepriesenen Volksgemeinschaft. Gehörte er gar einer „minderwertigen“ Rasse an, verlor er sein Lebensrecht. Wer sich diesen Regeln und Gesetzen nicht anschließen wollte, womöglich lautstark dagegen protestierte, verschwand in den KZ – verurteilt im Namen des nationalsozialistischen deutschen Volkes.Das Konzept der politischen Religion bietet Erklärungen für die Gläubigkeit vieler Anhänger im „Dritten Reich“ und in der DDR. Sie glaubten an den (National-)Sozialismus wie an eine Religion. Im Falle des Kommunismus ist es eine politische Religion, die Lösungen für alle Probleme bietet, wie es nicht einmal die klassischen großen Religionen für sich in Anspruch nehmen. Diese erkennen die letzten Antworten in Gott. Der Kommunismus ist ein Glaube, der Menschen in einen Zustand versetzt, Familie und Freunde in der Annahme zu verraten, für eine gute Sache zu handeln - denn muss die Lehre von einer Gesellschaft, in der alle Menschen glücklich werden sollen und erlöst sind durch ewige Gerechtigkeit, nicht zwangsläufig gut sein? Es seien schließlich Werte, für die es sich zu kämpfen lohne. „Denn wer kämpft für das Recht, der hat immer Recht, gegen Lüge und Ausbeuterei“. Deshalb hat auch „die Partei“ immer Recht, wie es im offiziellen Lied der SED in der DDR heißt. Prima vista lässt sich das annehmen, wer aber hinter die glänzende ideologische Fassade blickt, erkennt den Preis, den der Kommunismus und auch der Nationalsozialismus immer einfordern werden: den Anspruch auf ein Wahrheitsmonopol aufgrund vorgeblich objektiver sowie wissenschaftlicher Erkenntnisse. Genau darauf basiert der zwangsläufig rücksichtslose Umgang mit Oppositionellen: Sie dürften nicht toleriert werden. Ihre Unterdrückung und Verfolgung sind im antipluralen Kern angelegt.Die gläubigen Anhänger des Marxismus-Leninismus bewegen sich wie die des Nationalsozialismus in einem Weltbild, das fest vorgegeben und klar umrissen ist. Sie mit Argumenten überzeugen zu wollen, die von diesem Weltbild abweichen, kann nur durch eine umfassende Bekehrung erfolgen. Sie gleicht einer Konversion, die ihr Geschichtsverständnis ebenso berührt wie ihr Welt- und Menschenbild. Denn wer meint, in der Geschichte einen Sinn erkannt zu haben, gar berechenbare Gesetzmäßigkeiten erblickt, ist nur schwer von einer Politik zu überzeugen, die sich nicht als Erfüllungsgehilfe einer bestimmten Geschichtsvorstellung sieht, die ein angebliches Paradies auf Erden zum Ziel hat; einer demokratischen Politik, die sich als Organisationsform menschlichen Zusammenlebens begreift, das durch aktuelle Mehrheitsverhältnisse bestimmt wird und Minderheiten unter besonderen Schutz stellt.Der Marxismus-Leninismus muss den Pluralismus genauso ablehnen wie der Nationalsozialismus. Pluralismus ist nach offizieller marxistisch-leninistischer Definition „im weiteren Sinne eine bürgerliche politische und ideologische Konzeption, die sich gegen den Sozialismus und den Marxismus-Leninismus richtet. Der philosophische Pluralismus leugnet die Einheit der Welt, ihren inneren Zusammenhang und das Wirken allgemeiner Gesetzmäßigkeiten. Er ist Ausdruck ihres Unvermögens, die objektiv wirkenden Gesetzmäßigkeiten der Gesellschaft richtig zu erkennen und die gesellschaftliche Entwicklung wissenschaftlich zu erfassen und zu erklären.“ Hitler könnte dieses apodiktische Postulat mit Sicherheit unterschreiben.Im Marxismus-Leninismus ist der Glaube an die angeblich objektive Wissenschaft zu einem Fetisch geworden. Er täuscht vor, Erlösung im Kollektiv zu bieten und kann daher durchaus als politische Religion begriffen werden. Sein gefordertes Opfer ist nichts geringeres als die Würde jedes einzelnen Menschen, der als Individuum vor den vorgeblichen Interessen des Kollektivs keine Bedeutung mehr hat. Wer diese Lehre radikal zu Ende denkt, berührt den Nationalsozialismus. An diesem Punkt stehen sie sich bis zur Verwechslung nahe. Der Nationalsozialismus mag primitiver argumentieren, da er seine Gesetzmäßigkeiten in einer erbarmungslosen Natur zu erkennen meint und nicht im menschlichen Verstand. Auch verspricht er keine endgültige Erlösung von dem Bösen. Doch der menschliche Verstand erreicht die selbe grausame Rücksichtslosigkeit, wenn er sich lossagt von der Toleranz gegenüber seinem Nächsten, von der Demut vor den eigenen Unzulänglichkeiten und vor allem von der Liebe, auch für den Feind. Dies geschieht bei einer dezidiert pluralismusfeindlichen Ideologie, die eine Politik der letzten Ziele im Diesseits praktiziert und die mit einer Meinungsdiktatur den Mitmenschen zwangsweise zu beglücken sucht. Wer sich diesem absoluten und ausdrücklich intoleranten Wertekanon im Namen einer unbedingten Wahrheit verschreibt, einer Wahrheit, die den ausdrücklichen Klassen- bzw. Rassenhass predigt, baut als fundamentalistischer Gläubiger an der totalitären Diktatur einer politischen Religion. Im 20. Jahrhundert konvertierten viele Menschen zu den totalitären politischen Religionen und wählten diesen dunklen Weg.
Dr. des. Evelyn Völkel ist seit Frühjahr 2008 wissenschaftliche Referentin an der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach. Sie studierte Politikwissenschaft, Öffentliches Recht und Neueste Geschichte in München, Heidelberg, Florenz und Bonn. Bei Eckhard Jesse, TU Chemnitz, wurde sie zum Thema „Der totalitäreStaat – eine politische Religion?“ promoviert.
Erschienen in: FREIHEIT UND RECHT 2008 / 1+2