Später Sieg der Diktaturen?

Von Waldemar Ritter

Ich war vier Wochen in Polen, einem Land, in dem jedem aufmerksamen Zeitgenossen Geschichte und Kultur begegnen. Ich traf wieder politische und wissenschaftliche Freunde, wunderbare Menschen, die selbst Geschichte in der Geschichte sind, von dem subkulturellen „Zwergen“-Aufstand in Breslau bis zur Solidarnocz, deren Anteil am Fall der Mauer nicht überschätzt werden kann. Und ich begegnete Ryszard Horowitz, dem weltberühmten Künstler, Fotografen und Regisseur, der mit sechs Jahren einer der jüngsten auf Schindlers Liste war und Auschwitzüberlebender ist.

In Polen kennen die Menschen ihre Geschichte und die Zeitgeschichte Europas. Ganz Europas! Sie wissen um den Gegensatz zwischen Diktatur und Freiheit, Unabhängigkeit, Demokratie. Sie fragen: Kennen die jungen Menschen anderswo die Geschichte ihres Landes und Europas? Wissen sie um den Zusammenhang zwischen Terror und Massenmord, systemimmanenter Unterdrückung, Konzentrationslagern, der Missachtung der Menschenrechte und der Selbstbestimmung, den Hitler-Stalin-Pakt, der zum Überfall auf Polen führte, zu Katyn und nationalsozialistischer und kommunistischer Diktatur? Haben ihre Lehrer bedeutende Wissenschaftler wie den deutschen Historiker Jörg Baberowski (Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt) oder den polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Baumann (Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust) gelesen? Haben sie sich mit den Zurufen der geistigen Eliten Polens, Tschechiens, der baltischen Staaten und Ungarns auseinandergesetzt, dass es noch eine andere Geschichte in Europa gibt? Beide, Hitler und Stalin wollten mit dem Einsatz grenzenloser Gewalt homogene Gesellschaften schaffen und liebten „Höchstleistungen“ beim Töten.

Natürlich weiß ich auch um den Mangel an politisch-historischem und zeitgeschichtlichem Wissen in Deutschland, vor allem an unseren Schulen. Aber ich wusste nicht, was die neueste Forschung offenbart, deren Ergebnisse drei Tage nach meiner Rückkehr aus Polen auf meinem Schreibtisch lagen. Ich war fassungslos. Die Mehrheit der deutschen Schüler kann nicht zwischen Nazi-Deutschland, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland unterscheiden. Viele Jugendliche wissen nicht, dass die Nazizeit und die DDR Diktaturen waren und die Bundesrepublik eine Demokratie ist. - Diktatur? Demokratie? Keine Ahnung! - Gestapo? Voll Null! -

Mit dem Politologen Klaus Schröder von der Freien Universität Berlin halte ich diese Ergebnisse für bedrohlich: „Später Sieg der Diktaturen?“, so fragt seine neue Jugendstudie und bietet damit eine Erklärung an für zeitgeschichtliche Unkenntnis und Vorurteile deutscher Jugendlicher.

Insgesamt glauben rund 40 Prozent der Schüler, dass kaum Unterschiede bestehen zwischen Nationalsozialismus, der SED-DDR sowie der Bundesrepublik Deutschland vor und nach der Wiedervereinigung. Diese Schülergruppe ist der Auffassung, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Selbstbestimmung seien in allen vier Systemen etwa gleich ausgeprägt. Nur auf den ersten Blick ist überraschend, dass Schüler mit „DDR-Eltern“ oder mit mindestens einem ausländischen Elternteil - sogenannte Migrantenkinder - den Nationalsozialismus und die DDR positiver sehen, als ihre Altersgenossen mit westdeutschen Eltern. Die Bundesrepublik und das wiedervereinigte Deutschland sehen sie hingegen negativer als diese. Das alles ist ein bildungspolitischer, ein pädagogischer Offenbarungseid, zumal viele Schüler nicht einmal in der Lage sind, die von ihnen persönlich für richtig gehaltenen Werte oder deren Gefährdungen in der Realität zu erkennen.

In einer Diskussion mit Studenten war ich über einen Beitrag erschrocken, dass „die Deutsche Demokratische Republik schon deshalb eine Demokratie gewesen sein muss, weil sie sich doch selbst so genannt hat“. Die Doktrin der SED-Diktatur, des DDR-Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht: „Es muss demokratisch aussehen, doch wir müssen alles in der Hand haben“ kannte der Sprecher nicht.

Aufwachen! Hinschauen! Unsere Schulen und alle anderen Verantwortlichen und sind gefordert. Wertorientierter Unterricht ist die entscheidende Wissensquelle für Jugendliche, die zu Erkenntnisgewinn führt. Und höheres Wissen geht mit angemessenem Urteilen einher. Dabei ist auch die mangelnde Kontextualisierung der in Gedenkstätten angebotenen Information offenkundig. Wir sollten weniger in „Gedenkstättenhopping“, sondern mehr in soliden Geschichtsunterricht investieren, einschließlich Vor- und vor allem Nachbereitung der Gedenkstättenbesuche.

Obwohl in der Studie nicht untersucht, erscheint mir die Wirkung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland durchaus ähnlich. Endlos Wiederholungen: Hitlers Idole, Hitlers Frauen, Hitlers Krieger, Hitlers Manager, Hitlers Helfer. Nicht die weiße Rose, nicht Herbert Belter, nicht Freislers NS „Volksgericht“ gegen den deutschen Widerstand, und nicht der originale Prozess gegen Adolf Eichmann, sondern seine Gefangennahme in Argentinien ist in den vergangenen Monaten gefühlte 50 mal gelaufen. Am 20. Juli, dem Jahrestag des Attentats auf Hitler, werden Stauffenberg und dem deutschen Widerstand gerade 45 Minuten morgens um 5 Uhr 45 gewidmet. Am Abend, wenn auch Jugendliche schauen, läuft der Film „Die Mongolen“ im Reich des Dschingis Khan.

Und kein „Shitstorm“ über die Ergebnisse der Studie. Keine Empörungswelle bei der sonst massenhaften öffentlichen Entrüstung zu einem Thema, das Internet und Medien überflutet. Stattdessen „Niveaulimbo“ in der Jugendsprache mit wulffen, pyro, blowmo, swag.

Was ist eigentlich los in unserem Land? Wieviel Verantwortungsethik für unsere Jugend und deren demokratische Zukunft haben wir noch bei den Kulturmistern, in der politischen Bildung, in der politischen Klasse und in der veröffentlichten Meinung?

Unsere Schüler wissen viel über den Nationalsozialismus, aber sie wissen nicht das Richtige. Sie haben offensichtlich aus der Vergangenheit das Falsche gelernt. Sie können das System - ebenso wie die SED-Diktatur der DDR - als Ganzes nicht erkennen. Kenntnisse, Fakten müssen vermittelt werden, aber sie müssen in einen Wertezusammenhang gestellt werden, damit die Schüler in der Lage sind, historische Phänomene auch einzuordnen, um gegenüber diktatorischen Verführungen jeder Farbe gewappnet zu sein. Wenn sie nicht wissen, wo die Trennlinie zwischen Demokratie und Diktatur verläuft, dann können sie das nicht.

Die Parallelität der sensiblen Fragen in Polen mit den Ergebnissen der neuesten Forschung in Deutschland ist schockierend. Das wesentliche ist nicht in die Mitte gestellt. Das ist zeitgeschichtliches Analphabetentum. Alle verantwortlichen Menschen in Deutschland müssen aufwachen und hinschauen. Im Gegensatz zu den Ignoranten gilt: Aus der Geschichte kann jeder lernen, wenn er sie kennt.

 

 Erschienen in: FREIHEIT UND RECHT 2012 / 1+2

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