Von Hitler, Stalin und beiden zusammen verfolgt
Erwin Jöris zum 100. Geburtstag
von Horst Hennig und Gerald Wiemers
Als 2003 Erwin Jöris zusammen mit seinem Lagerkameraden Dr. Horst Hennig, dessen Buch „Begegnungen in Workuta“ auf der Messe vorgestellt wurde, nach Leipzig kam, erlebten wir einen körperlich stabilen und geistig frischen Mann. Er trug aus seinem bewegten Leben vor. Immer wieder geriet der inzwischen 90jährige in das Räderwerk der Diktaturen im 20. Jahrhundert. Geradezu magisch schienen ihn die Konzentrationslager anzuziehen. Emotionslos, im klaren Hochdeutsch, etwas eingefärbt vom Berliner Dialekt seiner Heimatstadt, beantwortet er der vorwiegend studentischen Zuhörerschaft alle Fragen zu seiner Person. Er diskutierte gern und präzise. Sein wacher, kritischer Geist schien auf einem intellektuellen Hintergrund zu stehen. Dem ist aber nicht so. Erwin Jöris wird in eine Berlin-Lichtenberger Arbeiterfamilie hinein geboren. Nach dem Besuch der Volksschule schließt er die Lehre in einer Holzbearbeitungsfabrik ab. Er wird Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes (KJVD) und 1931 Unterbezirksleiter. Nur so glaubt er, den aufkommenden Nationalsozialismus wirksam bekämpfen zu können. Offen und unerschrocken vertritt er seine politischen Überzeugungen auch nach 1933. Am 20. März wird er von der SA verhaftet und in Berlin-Spandau zusammen mit Erich Mühsam, Hermann Duncker und Manès Sperber inhaftiert. Im Juni 1933 folgt die Verlegung in das KZ Sonnenburg bei Küstrin/Oder. Dorthin werden auch Ludwig Renn und Carl von Ossietzky gebracht. Der politische Gefangene Jöris lernt aus Gesprächen dazu, bildet sich eine eigene Meinung zu Recht und Freiheit, zu Menschlichkeit und politischer Standhaftigkeit. Er wird zunehmend immun gegen den Bazillus der ideologischen Indoktrination und folgt allein seinem Gewissen.
Im März 1934 kommt er aus dem KZ frei und folgt im Mai der Aufforderung der verbotenen und illegal wirkenden KPD, nach Moskau zu emigrieren. Hier erfährt er die Diskrepanz zwischen marxistischer Theorie und praktischer Umsetzung. Während eines Industriepraktikums in Swerdlowsk erlebt er, wie Industrie- und Landarbeiter für Fehler als sogenannte Saboteure verurteilt werden. Auch die grausamen Verhaftungswellen zwischen 1936 und 1938 und die staatlich sanktionierten Morde gehen nicht spurlos an ihm vorüber. Zu den zahlreichen Opfern gehören auch deutsche Kommunisten, darunter Heinz Neumann - einer der besten Redner und klügsten Köpfe der KPD. Jöris kannte ihn aus Begegnungen im Karl-Liebknecht-Haus in Berlin. Als er schließlich selbst von der politischen Kontrollkommission der KPD wegen „abweichender politischer Äußerungen“ vernommen werden sollte, beantragte er am 16. August 1937 in der deutschen Botschaft einen deutschen Reisepass. Nahezu unmittelbar danach erfolgte die Festnahme durch den NKWD. Er weigert sich, einen Antrag auf die russische Staatangehörigkeit zu unterschreiben und wird in die Butyrka und die Lubjanka gebracht. Die Verhältnisse schildert er als grauenhaft: Selbstmorde und erzwungene Selbstbezichtigungen sind an der Tagesordnung. All das erschien ihm als Vorhof zur Hölle.
Ohne Prozess wurde Erwin Jöris im April 1938 in die Gegend von Memel gebracht und an der deutsch-russischen Grenze der Gestapo übergeben. Offensichtlich gab es schon eineinhalb Jahre vor dem Hitler-Stalin-Pakt einvernehmliche Interessen zwischen beiden Diktaturen. Nach Verhören in Berlin-Moabit wird Jöres 1939 entlassen und 1940 zur Wehrmacht eingezogen. Am Ende des Zweiten Weltkrieges nimmt ihn die Rote Armee 1945 vor Berlin gefangen und entlässt ihn 1946.
Als er in der DDR im Dezember 1949 von einem deutschen KPD-Funktionär, der in Moskau gelebt hat, erkannt und als „Verräter des Proletariats“ denunziert wird, folgte am 19. Dezember 1949 die Verhaftung durch den sowjetischen Geheimdienst MGB sowie die Verurteilung vor einem sowjetisches Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit in Workuta. In dieser unwirtlichen Gegend nördlich vom Polarkreis mit einem neun Monate lang währenden Winter und Temperaturen bis zu minus 50 Grad C arbeitet Erwin Jöris in den Kohleschächten 9 und 10 „zum Wohle des Sozialismus“. Sein Lagerkamerad Siegfried Jenkner charakterisiert ihn so: „Er hat die Haftjahre im arktischen Workuta nicht nur überlebt, sondern mit „Berliner Schnauze“, mit Herz, in einer Weise gemeistert, die für seine Haftkameraden im Kohleschacht und in der Lagerbaracke Hilfe und Ermutigung zum Durchhalten war.“ Erst im Dezember 1955 kommt er nach Intervention der deutschen Bundesregierung mit den anderen „Heimkehrern“ frei und lässt sich in Köln nieder.
Seit der friedlichen Revolution 1989 versucht Erwin Jöris vor allem jungen Menschen die Werte der Demokratie und seine Erfahrungen mit zwei Diktaturen nahe zu bringen. Anlässlich einer Archivreise, zusammen mit anderen politischen Häftlingen 1995 nach Moskau, kann Erwin Jöris die über ihn angelegten Akten der Komintern aus dem Jahre 1934, einen damals von ihm geschriebenen Lebenslauf, Spitzelberichte, die Anklage und Verurteilung von 1949/50 einsehen. Auf dem Friedhof „Berlin II“ in Workuta ehrt er die zu Tode gekommen deutschen Kommunisten und die anlässlich des Gefangenenaufstandes im Schacht 29 über 60 erschossenen Häftlinge unterschiedlicher Nationalität vom 1. August 1953.
1995 wird Erwin Jöris durch den Militärhauptstaatsanwalt der Russischen Föderation vollständig rehabilitiert. 2002 erhält er aus der Hand des damaligen Kölner Oberbürgermeisters Fritz Schramma das Bundesverdienstkreuz am Bande. Das schönste Geschenk hat sich der bescheidene Mann, der zwei Diktaturen erfolgreich widerstanden hat, selbst gemacht: 2004 erschien seine Autobiographie „Ein Leben als Verfolgter unter Hitler und Stalin“. Im Vorwort schreibt sein Haftkamerad Werner Gumpel: „Die Zeit, von der Erwin Jöris berichtet, liegt mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Die Zeugen des Geschehens sind weitgehend verstummt und das Leid jener Jahre ist Geschichte - Geschichte aber, über die im Hinblick auf die Verbrechen des Kommunismus weitgehend die Decke des Schweigens gelegt wurde und wird. Umso wichtiger ist es, dass Zeitzeugen wie Erwin Jöris zu Wort kommen - Menschen, die die nationalsozialistische und die kommunistische Diktatur in ihrer ganzen Grausamkeit am eigenen Leib verspürt haben.“
Am 5. Oktober 2012 beging dieser außergewöhnlich mutige und standhafte Mann seinen 100.Geburtstag. Zahlreiche Glückwünsche erreichten ihn, nicht zuletzt von Karl Wilhelm Fricke mit einem Aufsatz im Deutschland-Archiv.