Macht das Tor auf - die Besetzung der Berliner Stasi-Zentrale
Augenzeugenbericht über die Besetzung der Berliner Stasi-Zentrale in der Normannenstraße vor 20 Jahren
von Barbara Szkibik
„Macht das Tor auf, macht das Tor auf!“ riefen wir am Abend des 15. Januar 1990 vor dem Gebäudekomplex des „Ministeriums für Staatssicherheit“ (MfS) in der Ost-Berliner Normannenstraße. Wir, das waren nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 30.000 und 50.000 Demonstranten, die einem Aufruf des „Neuen Forum“ gefolgt waren. Nicht, dass wir glaubten, es würde sich dort etwas rühren. Auch hieß es in dem Aufruf „Bringt Kalk und Mauersteine mit, wir schließen die Tore“, was auch einige befolgt hatten und begannen, vor dem Tor in der Ruschestraße eine Mauer zu ziehen. Sie wurde kaum 30 cm hoch, den fleißigen Handwerkern fehlte inmitten der stetig steigenden Menge der Demonstranten schließlich der Platz zum Arbeiten. Und dann geschah das Unerwartete – das Tor ging auf. Ich stand keine drei Meter davon entfernt. Nach einer Schrecksekunde setze ich mich wie in Trance in Bewegung. Niemand wusste, was uns dort drinnen erwartete. Bestenfalls lud man bekanntlich Demonstranten auf Mannschaftswagen, brachte sie in irgendein Lager, um sie für ein paar Stunden oder Tage zu demütigen, sie die Staatsmacht spüren zu lassen - und die Spreu vom Weizen zu trennen. Wer Glück hatte und bisher noch nicht aktenkundig war, konnte fürs erste gehen. Wer nicht, landete im Knast und wartete auf Freikauf in den Westen. Aber ein Angriff auf das Allerheiligste, das Zentrum der Stasi? Wie würden sie reagieren? Das waren die Gedanken, die mir – und sicher auch anderen – in Sekundenbruchteilen durch den Kopf schwirrten. Ich dachte sie lieber nicht zu Ende. Aber wie heißt es: Wenn nicht wir, wer dann, wenn nicht jetzt, wann denn?
Wie später bekannt wurde, waren bereits seit dem Morgen Bürgerrechtler im Hause, um mit den MfS-Oberen zu verhandeln. Es ging um die endgültige und ersatzlose Auflösung der Staatssicherheit, eine bloße Umbenennung und Weißwäsche durfte nicht stattfinden. Noch am 17. November 1989 hatte der Ministerrat der DDR das MfS in ein „Amt für Nationale Sicherheit“ umbenannt, aus Stasi wurde Nasi. Es überdauerte keine vier Wochen, am 14. Dezember wurde formell dessen Auflösung beschlossen. Der Apparat wurde abgespeckt, aufgeteilt und sollte unter den Bezeichnungen „Verfassungsschutz“ und „Nachrichtendienst der DDR“ weiter arbeiten, womöglich mit der weitsichtigen Absicht, mit den formal gleichlautenden bundesdeutschen Behörden zu kooperieren (oder später gar zu fusionieren?), was diese freilich dankend abgelehnt hätten.
Keine Polizeistaffeln mit Maschinengewehren und Hunden, nur ein großer leerer Platz erwartete uns. Es dauerte keine drei Minuten, bis er voller Menschen war. Niemand von uns hatte eine Ahnung davon, dass wir nur auf dem ersten von mehreren verschachtelten Höfen angekommen waren. Erst in den folgenden Tagen begriffen wir nach und nach die Dimension dessen, wogegen wir angetreten waren. Weit oben in einem Gebäude klirrten Scheiben, Gegenstände flogen aus dem Fenster. Bis heute ist nicht völlig geklärt, ob sich dort der Volkszorn entlud oder ein Trupp von Stasi-Leuten sich als Provokateur betätigte. Für letzteres spricht mehr. Aus den Fenstern im ersten Stock des Wachgebäudes gleich hinter dem Tor in der Ruschestraße schauten Wehrpflichtige vom Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ heraus. Sie hatten offenbar ebenso Angst vor uns wie wir vor ihnen, und – anstatt das MfS zu beschützen – riefen sie zu uns herunter: „Macht bloß keinen Scheiß, wir haben nur noch elf Tage!“ Wir machten keinen. Alles blieb friedlich. Die Parole „Keine Gewalt“ des Neuen Forum wurde wie bei den vielen Demonstrationen und Kundgebungen zuvor auch hier befolgt. Viele der Demonstranten - so auch ich - hatten sich spontan dem in Entstehung begriffenen Bürgerkomitee angeschlossen. Das Bürgerkomitee organisierte sich und richtete sich für die Nacht ein. Die Bastion war gefallen. Mit der etwas ratlosen Volkspolizei vom örtlichen Revier wurde eine Sicherheitspartnerschaft vereinbart. Die verbliebenen untätigen Wachsoldaten ließen in den folgenden Tagen die hungrigen Bürgerkomitee-Mitglieder an den Mahlzeiten aus ihrer Feldküche teilhaben.
Der Grundstein für diesen spektakulären Vorgang im Januar 1990 wurde bereits am Morgen des 4. Dezember 1989 in Erfurt gelegt, die Besetzung anderer Bezirks- und Kreisdienststellen des MfS durch Bürgerkomitees folgte wenige Stunden bzw. Tage später. Nur die Zentrale in Berlin stand noch aus. Freilich darf dabei nicht übersehen werden, dass die SED sehr bewusst und gezielt den „Volkszorn“ auf die böse Stasi gelenkt hatte, um ihren eigenen Hals zu retten. Die eigentlichen Machthaber hatten diese Bastion schlicht und einfach aufgegeben und waren schon mit dem unvermeidlichen Übergang in die neue Zeit beschäftigt – nicht ohne Erfolg, wie man leider heute feststellen muss. Tatsächlich war dieser Schachzug nicht ungeschickt. Während sich alle Welt über die Machenschaften der Staatssicherheit erregte und die Bestrafung der Verantwortlichen forderte (was, wie wir erleben mussten, wenig erfolgreich war), hatten sehr viele vergessen, wo die eigentlichen Urheber und damit wahren Schuldigen saßen: Das Ministerium für Staatssicherheit war „Schild und Schwert der Partei“, was sowohl MfS als auch SED in den Jahrzehnten ihres Wirkens in der DDR einander gar nicht oft genug versichern konnten. Dort, in der SED-Führung, saßen die wirklichen Befehlsgeber für den Stasi-Terror, und das MfS war selbst Teil des gewaltigen Parteiapparats. Dass das MfS nur ein ausführendes Organ kommunistischer Gewaltherrschaft war, schmälert indes die Schuld der Beteiligten nicht.
Frauen mit großen Taschen, aus denen Kaffemaschinen ragten, in den Händen Töpfe mit Zimmerpflanzen balancierend, strömten in Richtung der Ausgänge. Die Sekretärinnen waren endgültig heim geschickt worden - dies war für mich ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Arbeit des MfS beendet war. Wir vom Bürgerkomitee hatten das Ministerium besetzt und überwachten nun dessen Selbstauflösung. So glaubten wir zumindest. Natürlich haben sie uns immer wieder über den Tisch gezogen, uns das Blaue vom Himmel herunter erzählt und uns Akten unter den Händen weg geklaut. Darüber wird der eine oder andere von ihnen heute noch klammheimlich lachen. Selbst ein Teil von dem, was zur Vordertür im Archiv abgeliefert wurde, verschwand vermutlich wieder durch eine der vielen Hintertüren, die wir noch gar nicht entdeckt hatten. Natürlich hatten sie – gemäß einer Anordnung von Stasi-Chef Erich Mielke vom 6. November 1989 - viel Brisantes schon längst vernichtet, bevor an Bürgerkomitees überhaupt zu denken war. Dennoch haben wir den größten Teil bewahren und für die Betroffenen, die Justiz, die Wissenschaft und die Öffentlichkeit retten können.
Obwohl wir zweifellos die blauäugigsten Dilettanten waren, die jemals in die Gefilde und Geheimnisse eines Nachrichtendienstes eindrangen, noch dazu eines Dienstes, der als einer der effektivsten weltweit galt, so haben wir es letztendlich geschafft, ihn still zu legen. Und es ist uns auch gelungen, sein in Jahrzehnten gesammeltes Wissen nicht nur vor der Vernichtung zu bewahren, sondern auch öffentlich zugänglich zu machen. Dabei ist es nicht erheblich, ob am Ende ein paar Akten fehlen, die man gern noch gehabt hätte. Was zählt, ist die Einmaligkeit des Vorgangs, ist die Tatsache, dass die Demonstration des Volkswillens einen solchen Akt ermöglicht hat.
Das Bürgerkomitee Normannenstraße war letztendlich die Keimzelle der am 3. Oktober 1990 gegründeten Behörde des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik“ (BStU), die wegen des unaussprechlich langen Namens nur nach ihrem ersten Chef „Gauck-Behörde“ genannt wurde. Deren erste und wichtigste Intention war, den Opfern, den Betroffenen wieder ihre Würde und ihre Selbstbestimmung zurück zu geben. Die juristische Aufarbeitung scheint nicht ganz so geglückt, was nicht zuletzt auf politischem Unverstand beruhender zweifelhafter Rechtsauslegung geschuldet ist, denn der so herbeigeführte Rechtsfrieden begünstigte die Täter. Wie man von Zeit zu Zeit hören und lesen kann, sind die Bestände der BStU (inzwischen „Birthler-Behörde“, weil sich immer noch niemand den langen Namen merken mag) auch immer wieder für Überraschungen gut. Aber das Wichtige an der Arbeit mit den Stasi-Akten ist nicht wirklich das Spektakuläre oder Skandalöse, das von Zeit zu Zeit aus den Tiefen der Archivbestände an die Oberfläche schwappt; das eigentlich Faszinierende ist vielmehr die Möglichkeit, in akribischer Kleinarbeit das Funktionieren des komplexen Systems eines perversen Unterdrückungsapparates zu analysieren, eine Möglichkeit, die es wohl kein zweites Mal irgendwo gibt und die deshalb historisch und gesellschaftspolitisch so wertvoll ist. Und wenn man bedenkt, welche Zeiträume die Aufarbeitung der anderen Diktatur in Deutschland einnimmt, dann hat die Arbeit dieser Behörde - wie immer sie auch heißen mag - eigentlich gerade erst begonnen.
Die Autorin:Barbara Szkibik war 1990 im Bürgerkomitee für das Zentralarchiv des MfS zuständig und baute später die Gauck-Behörde mit auf. Sie arbeitete dann als Referentin im Innenministerium des Landes Brandenburg, lebt heute bei München und ist Mitglied im Bund Widerstand und Verfolgung (BWV-Bayern) e.V.Erschienen in FREIHEIT UND RECHT 2010 / 1