Das verschwommene DDR-Bild bei ostdeutschen Jugendlichen: zwischen Verklärung und Aufklärung
Von Dorit Seichter
Fast scheint es, als würden im Laufe der zwanzig Jahre deutscher Einheit die (vermeintlich) „guten“ Seiten der DDR einen festen Platz im historischen Gedächtnis finden, während die totalitären Züge des SED-Staates zunehmend verblassen. Beharrlich hält sich in manchen Köpfen ein verklärendes Bild.
Die Studie Klaus Schroeders über das DDR-Bild bei Jugendlichen fördert ernüchternde Tatsachen zutage.[1] Während ostdeutsche Schüler ein größeres Interesse am SED-Staat bekunden, der Wissensstand darüber in Ost und West stark differiert, bezeichnen sie häufiger – anders als westdeutsche Schüler – die DDR ausdrücklich nicht als „Diktatur“. Eine Befragung von 5.000 Schülern (70 Prozent der Teilnehmer waren Gymnasiasten) ergab nicht nur ein gespaltenes, sondern ebenso ein geschöntes DDR-Bild. Wenngleich die Messung von historischem Wissen problematisch ist, und zugleich die Erhebung in (nur) zwei ost- und zwei westdeutschen Bundesländern einen begrenzten Blick gestattet, wird deutlich, auch Schule vermittelt einen euphemistischen Eindruck vom SED-Staat: vor allem in ostdeutschen Einrichtungen.
Kaum weniger erschreckend mutet der Umstand an, dass Jugendliche der DDR mehr gute als schlechte Seiten bescheinigen, hauptsächlich mit dem Fokus auf Sozialleistungen. Die Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie scheinen hingegen nur mangelhaft bekannt zu sein. Das mag einerseits ein Wissensdefizit aufzeigen, andererseits verbirgt sich dahinter eine undifferenzierte Sicht auf den Alltag sowie auf das Funktionieren des SED-Staates. Der Wert der Gleichheit wird höher geschätzt als der Wert der Freiheit. Dann geht es nicht um eine bloße Wissensfrage, sondern um die Frage der politischen Einstellung.
Woher beziehen Jugendliche Wissen über die DDR? Nachhaltig beeinflussen die Ansichten und Wertmaßstäbe des Elternhauses, der familiären Umgebung. Kinder, Heranwachsende ahmen Dialekte, Haltungen nach – nicht minder prägen wahrgenommene Frustrationen und Meinungen. Ein jeder trägt einen „Rucksack“ mit sich herum, in dem sich Werte, Meinungen, Moralvorstellungen und Erfahrungen sammeln. Im Laufe der Lebensjahre kann der Inhalt wechseln. Da wird Altes ausgeräumt, kommt Neues hinzu. Doch zunächst führen Jugendliche Übernommenes mit sich; noch, ohne frei werten oder urteilen zu können, denn oft fehlt es schlicht an dem dafür notwendigen Wissen. Der Arbeitsplatzverlust der Eltern, soziale Unterschiede, Notempfinden, gefühlte Ungleichheit – das mögen ebenso Gründe für Unzufriedenheit wie auch für politisches Desinteresse und – im schlimmsten Falle – für Hinwendung zu politischem Extremismus sein.
Eltern und Großeltern begegnen den Fragen der Jugendlichen über die DDR als Zeitzeugen. Die Schüler sollten sich dieses Umstandes und der subjektiven Färbung jedweder Erinnerungen bewusst sein. Nur eine scharfe Trennung zwischen persönlichen Lebensläufen, mit wertvollen Erinnerungen an eine schöne, ereignisreiche Jugendzeit, und den rationalen politischen Fakten über den SED-Staat ermöglichen ein objektives Bild über die DDR.
Neben dem Elternhaus, so bekunden die Schüler, stellt die Schule die wichtigste Informationsquelle über die DDR dar. Damit fällt den allgemeinbildenden Schulen eine große Verantwortung zu, denn damit obliegt hauptsächlich dem Unterricht, politische Bildung zu vermitteln und das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu entwickeln. Dessen scheinen sich die Lehrplangestalter bewusst zu sein. Zumindest begründen die Vorworte der Planwerke die unabdingbare Notwendigkeit eines differenzierten wie reflektierten Geschichtsbildes damit, dass Lehren aus der Vergangenheit ebenso gezogen wie Erfahrungen für die Gestaltung der Zukunft gewonnen werden.
Die Bundesländer setzen hinsichtlich historischer Fakten zur DDR-Geschichte unterschiedliche Prioritäten: sowohl im Stundenumfang als auch in der Auswahl der Schwerpunkte. Und inwiefern die Lehrplaninhalte im Unterricht tatsächlich Umsetzung finden, das ist nicht prüfbar. Während für Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen bereits bundesweit Bildungsstandards existieren, lässt ein verbindlicher Kanon für historisches Wissen auf sich warten.
Bildungspolitik ist Ländersache. Weshalb gerade in einigen ostdeutschen Ländern, z.B. in Sachsen, junge Absolventen keine Anstellung finden, sich stattdessen gezwungen sehen, in den Westen abwandern, lässt sich keinesfalls allein mit der knappen Haushaltskasse begründen. Und nicht zuletzt verliert Sachsen junge, motivierte Lehrer, weil westdeutsche Bundesländer ihnen deutlich attraktivere Gehalts- und Berufsperspektiven bieten. Demnach unterrichten Lehrer, die sich nicht selten beim Thema DDR in erzählende Zeitzeugen wandeln: vielleicht wegen der eigenen Biografie mitunter ebenso hin- und hergerissen oder blockiert wie die Eltern- und Großelterngeneration. Unlängst bekannte der Bildungsminister Brandenburgs, Holger Rupprecht (SPD), in seinem Land vollziehe sich die Aufarbeitung der DDR-Zeit nur schleppend, und viele Lehrer scheuten schlicht die Fragen der Schüler. Wer will schon als (ehemaliger) Angepasster gelten? Der Rahmenlehrplan weist alle wichtigen Fakten auf, doch das allein nützt wenig, wenn der Lehrer das Thema (aus Zeitgründen) ausspart.[2] Bleibt die leise Hoffnung, das ist ein Einzelfall.
Aus den Universitäten treffen Praktikanten, Lehramtsanwärter und Referendare auf den Unterrichtsalltag, deren historisches Wissen sehr partiell und oft auf exotische Themen spezialisiert ist. Relevante Schwerpunkte, wie historische Fakten über den SED-Staat, erarbeiten die Berufseinsteiger oft kurz vor der anstehenden Unterrichtsstunde: im zeit- und kraftraubenden Selbststudium. Sind die inhaltlichen Aspekte nicht verfügbar, muss ein Großteil an Energie dafür verwendet werden, den historischen Kenntnisstand aufzuarbeiten, dann bleibt für Pädagogik und Didaktik anfänglich nur wenig Platz. Vor allem steht die Frage: Vermitteln die Hochschulabsolventen Wissen über die DDR auf wissenschaftlichem Niveau?
Wenn die Öffentlichkeit, Politiker, Medien oder Lehrer die Vergleichbarkeit von politischen Systemen – wie etwa das der DDR mit dem des NS-Staates – mit Gleichsetzung verwechseln, also polemisieren statt analysieren, wird das Geschichtsbild verschoben, eine Aufarbeitung behindert. Historische Kenntnisse bilden das Fundament, auf dem demokratische Positionen, Überzeugungen und Handlungsmuster entstehen und bestehen. Eine konsequente Position und Reaktion gegenüber jeder Form von politischem Extremismus muss zur Selbstverständlichkeit werden. Ein beschönigendes DDR-Bild verzerrt die Realität, vertuscht die totalitären Züge des SED-Staates.
Es geht keinesfalls darum, DDR-Biografien zu entwerten, Lebensgeschichten zu be- oder zu verurteilen, es geht vielmehr um historische Fakten, die den Staat und seine Funktionsweise charakterisieren. Eine Partei, deren Machtapparat ein Volk gefangen hielt, die von Rechtsstaatlichkeit und Volkssouveränität nichts hielt, Wahlergebnisse fälschte und Oppositionelle in Gefängnis sperrte, verdient eine genauere und kritische Betrachtung – nicht zuletzt, da ehemalige SED-Funktionäre weiterhin politisch aktiv sind. Unter gewandeltem Namen fusionierte die Nachfolgerin der DDR-Staatspartei schließlich mit Gleichgesinnten und auf Bundesebene zur Partei Die Linke: gehüllt in ein Demokratiemäntelchen, aber noch immer unfähig, begangenes DDR-Unrecht zuzugeben.
Neben dem Elternhaus und der Schule nutzen die Schüler die Medien, vor allem das Fernsehen, als Informationsquellen über die DDR. Doch die Jugendlichen stehen ohne Grundwissen ratlos vor einer Informationsflut. Neben wissenschaftlich fundierten Reportagen und Dokumentationen über eine Vielfalt von DDR-Themen begegnen ihnen „Ostalgie“-Shows, schlechte „Event-Zweiteiler“ oder klischeehaft geprägte Beiträge. Sie müssen sich entscheiden: zwischen wertvollen Filmen und Produktionen, die an Volksverdummung grenzen.
Schule allein kann politische Bildung kaum leisten. In der Verantwortung stehen nicht zuletzt die Volksparteien, die es versäumen, junge Leute für ihre Ideen und Ziele zu begeistern. Demokratiefeindliche Parteien ergreifen gewandter die Initiative. Sie suchen die Nähe zu Jugendlichen, gewinnen deren Interesse, weil sie sich für deren Probleme öffnen, weil sie für die Sorgen einer wachsenden Zahl junger Menschen, die um ihre Zukunft bangt, ein offenes Ohr zeigen – und das nicht nur vor Wahlen.
Es scheint, als vernachlässigen die demokratischen Parteien den eigenen Nachwuchs. Eine attraktive Jugendpolitik der Volksparteien, eine nachhaltige Politik, die soziale Sicherheit garantiert, Heranwachsende ernst nimmt und zur Mitgestaltung der demokratischen Gesellschaft motiviert – das sind die Wege, um stabile Grundhaltungen formen zu helfen. Unsere Gesellschaft ist herausgefordert, den jungen Menschen demokratische Werte und Grundhaltungen zu vermitteln. Denn es gibt sie, die interessierten und neugierigen Schüler, begierig auf Wissen und Herausforderungen! Wir müssen sie nur fördern, einbeziehen – gerade weil sie die Zukunft unserer demokratischen Gesellschaft gestalten (sollen).
[1] Vgl. Monika Deutz-Schroeder/ Klaus Schroeder: Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern – ein Ost- und Westvergleich, Stamsried 2008, 759 S.
[2] Vgl. Mallwitz, Gudrun: Viele Lehrer fürchten die Fragen der Schüler, Brandenburg tut sich schwer mit der Aufarbeitung der DDR-Zeit. Ein Interview über Versäumnisse in der Bildungspolitik und die Hoffnung auf Besserung, in: Welt am Sonntag vom 14.3.2010.
Die Autorin:
Dorit Seichter ist Fachleiterin für Gesellschaftswissenschaften am Käthe-Kollwitz-Gymnasium Zwickau. Sie ist Initiatorin zahlreicher Schülerprojekte zur deutschen Geschichte, Schwerpunkte: deutsch-jüdische Geschichte, DDR-Geschichte und Aufarbeitung der SED-Diktatur. Autorin des Buches „Salo. Das bewegte Leben eines Juden aus Sachsen“, Metropol Verlag, Berlin 2004.