Erbe und Auftrag im Wandel

von Helmut Ritzer

Vorsitzender des Bund Widerstand und Verfolgung (BWV-Bayern)

Umbruch

Der Bund Widerstand und Verfolgung (BWV-Bayern) erlebt gerade große Veränderungen. Erstmals sind die selbst von der Verfolgung im Dritten Reich Betroffenen nicht mehr die Verantwortlichen in der Leitung des Vereins, weil Bertold Kamm und Dr. Ernst Raim verständlicherweise nach dem Erreichen des 85. Lebensjahres die Verantwortung in jüngere Hände legen wollten. Wir danken beiden für das lange Engagement bei uns und in anderen Organisationen. Dass der bayerische Verband heute stabil seine Arbeit fortsetzen kann, ist ihr Verdienst. Sie werden uns zusammen mit unserem Ehrenvorsitzenden Dr. h.c. Max Mannheimer mit ihrem Rat weiter zur Seite stehen. Auch dafür danken wir sehr herzlich.

Der Zentralverband Demokratischer Widerstandskämpfer- und Verfolgtenorganisationen – ZDWV e.V. mit Sitz in Bonn dagegen wurde im vergangenen Jahr aufgelöst, zwei von zuletzt noch vier Mitgliedsverbänden, nämlich Berlin und Schleswig-Holstein, erklärten ihren Austritt, danach fehlten die für den Erhalt erforderlichen Mitgliedsverbände. Ein bitteres Ende für einen verdienstvollen Dachverband, den die langjährige Vorsitzende, Bundestagspräsidentin a.D. Dr. h.c. Annemarie Renger, mit viel Herzblut, Engagement und großem Erfolg geführt hatte.

Schon vorher, im Jahre 2008, musste der von Anfang an auf das Engagement im 21. Jahrhundert hin orientierte BWV-Bayern einspringen, um diese Zeitschrift FREIHEIT UND RECHT zu retten. Was als vorübergehende Aufgabe gedacht war, entpuppte sich schließlich als Dauerzustand. Der bayerische Verband steht (vorläufig) alleine mit dieser großen Herausforderung. Nur mit den allergrößten Anstrengungen und der Hilfe vieler Leser ist es gelungen, unsere Zeitschrift bereits im vierten Jahr weiterzuführen. Wir wollen uns weiter der Aufgabe stellen, brauchen aber noch mehr Unterstützung. Wir sind der Meinung, dass diese Stimme gebraucht wird, um in der öffentlichen Debatte für ein streitbares Demokratieverständnis und antiextremistischen Konsens aller Demokraten zu werben. Wir bleiben zuversichtlich.

Auftrag

Die Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturen des 20.Jahrhunderts in Deutschland und großen Teilen Europas bleibt weiter die zentrale Aufgabe unseres Verbandes und von FREIHEIT UND RECHT. Wir reden dabei nicht einer vordergründigen Gleichsetzung von NS- und SED-Regime das Wort, weil wir die Gefahr kennen, dabei die Einzigartigkeit des NS-Rassenwahns und des Holocaust zu verharmlosen. Wir sind aber schon der Meinung, dass die totalitären Strukturen beider Regimes frappierende Ähnlichkeiten aufweisen. Beide haben den Verfügungsanspruch über den öffentlichen, gesellschaftlichen Bereich hinaus auf die Menschen ausgedehnt, ihre Eigenverantwortung und ihre Integrität genommen und so ihre Menschenwürde der Ideologie unterworfen. Die lückenlose Überwachung der „Feinde“ gehörte in beiden Systemen ebenso zum totalen Anspruch, wie die physische Isolierung in Lagern und Gefängnissen bis hin zur massenhaften Tötung. Beide trieben die ideologische Rechtfertigung ihrer als total geplanten Herrschaft auf die Spitze, indem sie ihrer Ideologie einen konstruierten „wahren Willen des Volkes“ zu Grunde legten. Wir wollen weiterhin klar sagen, welche Dimension der totalitäre SED-Staat hatte und sind nicht bereit, das Feld denen zu überlassen, die das Unrecht des Regimes bagatellisieren. Wir werden deshalb weiter über die Opfer beider Diktaturen berichten und über die, die Widerstand geleistet haben.

Wir müssen ein waches Auge für die rechts- und linksextremistischen Bestrebungen in Deutschland und Europa haben. Die gegenwärtige Entwicklung in Ungarn macht große Sorge und muss ebenso sorgfältig beobachtet werden, wie die nachlässigen Reaktionen der EU auf dieses Geschehen und auf die vielen Tendenzen eines rechten Populismus.

Erinnerungsarbeit

Es ist klar, dass wir uns künftig noch mehr als bisher der Erinnerungsarbeit widmen und dabei – auch weil die Zeitzeugen immer weniger werden – die neuen Medien nutzen müssen. Wir sind dankbar für das staatliche Engagement bei den Gedenkstätten, das deren Existenz und deren Arbeit gewährleistet, die mit Blick auf die nachwachsenden Generationen gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Erwähnt werden müssen dabei auch die erfolgreichen Bemühungen der Städte Nürnberg und München, ihre eigenen Dokumentationszentren aufzubauen.

Wir schätzen und anerkennen die Formen des Erinnerns durch die deutsche Politik an den Gedenktagen. Es wäre auf die Dauer aber zu wenig, wenn es allein bei den zentralen Veranstaltungen zum 20.Juli, zum 9. November, zum 27. Januar, zum 17. Juni und zum Tag der deutschen Einheit bliebe. Das Erinnern gehört überall hin. Es gibt die vielen Gedenkorte, z.B. KZ-Außenlager, Gefängnisse und Mahnmale, wo sich örtliche Gruppen und Initiativen mühen, das dort geschehene Unrecht in der Erinnerung der Menschen zu halten. Diese Initiativen brauchen Anerkennung, Ermutigung und Unterstützung. Ihre Arbeit entscheidet darüber, ob die grundlegenden Botschaften des „Nie wieder“ und des „Wehret den Anfängen“ wirklich bei den Menschen heute ankommen. Ihre Anstrengungen müssen auch für unsere Arbeit fruchtbar werden. Das gilt auch für die zahlreichen Initiativen, die sich gegen die frechen Herausforderungen der Neonazis wehren, beispielhaft zu nennen sind hier in Bayern die Städte Wunsiedel und Gräfenberg.

Wandel der Gesellschaft als neue Herausforderung.

Wir brauchen auch einen interkulturellen Dialog zu Verfolgung und Totalitarismus. Wir sind konfrontiert mit einer Herausforderung, deren Dimension noch kaum ins Bewusstsein der an unserer Arbeit Beteiligten gedrungen ist. Jeder fünfte Bewohner Deutschlands hat einen Migrationshintergrund, das heißt konkret 15,6 Millionen von 82,1 Millionen Menschen in Deutschland bzw. 2,4 Millionen von 12,5 Millionen in Bayern. Die Hälfte dieser Menschen haben die deutsche Staatsangehörigkeit, die andere Hälfte eine ausländische. Darunter sind z.B. 2,9 Millionen Menschen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und 1,4 Millionen Menschen aus Polen mit oft leidvollen Erfahrungen mit ihren kommunistischen Regimen; die schlimmsten haben wohl die nach Sibirien und Kasachstan zwangsweise umgesiedelten Wolgadeutschen, die Stalins Terror in seiner brutalsten Form erleben mussten.

Daneben sind die vielen Asylbewerber, die in ihren Heimatländern aus politischen, ethnischen oder religiösen Gründen verfolgt wurden. Auch in ihren Schicksalen spiegelt sich das Grauen dieser Welt, das durch autoritäre und totalitäre Regime angerichtet wird. Diese Menschen haben das Leid der Verfolgung so erlebt, wie viele Deutsche vor allem während des NS-Regimes. Das Recht auf Asyl unseres Grundgesetzes ist bekanntlich die Antwort der jungen deutschen Demokratie auf die Erfahrungen ihrer eigenen politisch Verfolgten.

Unsere Gesellschaft sollte das Gespräch mit diesen Menschen über deren Schicksale beginnen, einen interkulturellen Dialog zu Verfolgung und Flucht. Das würde das Bewusstsein dafür stärken, dass Widerstand und Verfolgung kein abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit ist, sondern leidvolle Gegenwart für viele Staaten und Gesellschaften und eine Herausforderung für die demokratischen Staaten dieser Welt. Auch wir sollten dies für unsere Arbeit beherzigen.

Wir laden alle Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift und vor allem unsere Mitglieder ein, sich an der Diskussion über die weitere Arbeit unserer Vereinigung zu beteiligen. Wir sind offen für alle Anregungen und wollen in Foren die Themen unseres weiteren Engagements erörtern. Wir freuen uns, dass wir auch recht junge Mitglieder für den Vorstand gewinnen konnten, deren unbefangener Blickwinkel im Dialog mit Erfahrung helfen wird, im dargestellten Sinne voranzukommen.

Der Autor

Dr. Helmut Ritzer, Jahrgang 1938, Verwaltungsjurist, von 1982 bis 2003 Mitglied des Bayerischen Landtags, von 1991 bis 1998 als Vorsitzender des Petitionsausschusses, von 1998 bis zum Ausscheiden als 1. Vizepräsident. Am 12.11.2011 zum Vorsitzenden des Bund Widerstand und Verfolgung (BWV-Bayern) gewählt. Lebt in Erlangen.

 

 

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