Wolfgang Natonek

Streitbarer Liberaler und Opfer beider Diktaturen in Deutschlandvon Gerald Wiemers

Sein Vater Hans war in Leipzig ein bekannter Schriftsteller und geschätzter Journalist, der u. a. für die Neue Leipziger Zeitung schrieb. So reagierte er 1932 auf die Juli-Wahlen in Leipzig, der einzigen Großstadt, in der die Sozialdemokraten 1932 mehr Stimmen erhielten als die Nationalsozialisten, mit dem Artikel „Und nun: Freiheit der Kunst! Eine Forderung aus dem Leipziger Wahlergebnis.“ 1933 verliert er seine Arbeit und ein Jahr später die deutsche Staatsbürgerschaft. 1938 flieht Hans Natonek ohne seine Familie nach Prag, erwirbt für sich und seine Kinder die Staatsbürgerschaft der ČSR und emigriert in die USA nach Kalifornien. In den später angelegten Stasi-Akten wird mit keinem Wort sein politisches Handeln erwähnt, sondern nur indirekt die rassische Verfolgung bezeichnet. Die Sprache erinnert an die des dritten Reiches: „Vater Hans N. wurde 1933 als Schriftleiter entlassen (Jude) ... gilt seitdem als verschollen“, oder für Wolfgang: „Natonek ist Halbjude und wurde am 31.4.1934 laut Ratsakt Nr. 1786 für staatenlos erklärt.“

Wolfgang Natonek kann 1938 noch das Abitur an der Leipziger Petri-Schule ablegen. Seine Zukunft ist ungewiss und im höchsten Maße gefährdet. Er schlägt sich durch, wird zur Wehrmacht eingezogen und kurze Zeit später als „wehrunwürdig“ entlassen . 1944 versteckt er in der Autowerkstatt Wigand drei sowjetische Zwangsarbeiter. Der ersehnte Zusammenbruch 1945 eröffnet ihn eine Perspektive. Für das Wintersemester 1945/46 schreibt er sich in den Fächern Zeitungswissenschaften, Germanistik und Englisch ein. Die Universität wird aber im letzten Moment nicht wie geplant am 31.Oktober 1945 eröffnet, sondern erst am 5. Februar 1946. Die sowjetischen Militärbehörden bemängelten die angeblich zu schleppende Entnazifizierung und machten den noch unter den Amerikanern gewählten und bestätigten Rektor Bernhard Schweitzer dafür verantwortlich. Der neue Rektor Hans-Georg Gadamer sollte später ihre Erwartungen ebenso wenig erfüllen.

Natonek brachte sich vielfach in das neue politische Leben ein. Er wird Mitglied der LDP und gehört 1947, wie Manfred Gerlach, der spätere Staatsratsvorsitzende der DDR, dem Bezirksvorstand Leipzig und dem erweiterten Landesvorstand Sachsen der liberalen Partei an. Mit großer Mehrheit wird er im Februar 1946 zum Vorsitzenden des Studentenrates der Universität gewählt. In seiner klaren, überzeugenden Sprache konnte er komplizierte Inhalte mühelos vermitteln. Natonek wird als mitreißender, brillanter Redner, als politisches Urtalent beschrieben, und jeder, der ihn zur universitären Immatrikulationsfeier am 19.Oktober 1992 im Leipziger Gewandhaus gehört und gesehen hat, kann das bestätigen.

Die Kommunisten versuchen alles, ihn auf ihre Seite zu bekommen. Als das nicht gelingt, wird systematisch gegen ihn und seine Anhänger gehetzt und verleumdet. Natonek bleibt souverän, geht nicht nach dem Westen. Schließlich verschwindet Wolfgang Natonek - es war der 11. November 1948 - wie so viele, die an einen demokratischen Anfang geglaubt haben, in der berüchtigten sowjetischen Kommandantur in der Leipziger Windscheidstraße. Die Verhaftung erfolgt heimlich durch einen sowjetischen Offizier und einen deutschen Instrukteur vom Kriminalamt Leipzig, Kommissariat K5, der Vorgängerorganisation der berüchtigten Staatssicherheit der DDR. Die gemeinsame Wohnung von ihm und seiner Mutter wird durchsucht und „der im Zimmer N.‘s stehende Fernsprechapparat abmontiert und dem sowjetischen Offizier übergeben.“ In einem Bericht der K 5 teilt der IM „Stephan“ 1952 mit, dass man „in internen Kreisen... Gerlach immer wieder mit der Verhaftung des Studentenrats-Vorsitzenden Natonek in Verbindung“ bringe, „indem man andeutet, dass Gerlach an der Verhaftung und Verurteilung des Natonek nicht unbeteiligt ist.“ Wolfgang Natonek wird von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Die Anklage erstreckt sich auf Spionage, Sabotage und Mitwisserschaft eines Verbrechens, begangen von einem Kommilitonen, das er nicht angezeigt habe. Hinter all diesen Vorwänden verbargen die Sowjetbehörden den eigentlichen Grund der Verhaftung: Wolfgang Natonek hatte über den Studentenrat zu viel politischen Einfluss gewonnen. Er war ihnen und noch mehr ihren kommunistischen deutschen Helfershelfern gefährlich geworden. Über die Haft berichtet Natonek später, dass er in verschiedenen Zuchthäusern gewesen sei, am längsten in Bautzen. „Im Zuge der Souveränität“, schreibt Natonek 1956, „der ‚humanistischen DDR’ gingen von sowjetischen Militärtribunalen verurteilte Personen Ende 1954 in die Vollmacht der Staatssicherheitsorgane über.“ Die Bedingungen werden noch härter. Lediglich die medizinische und hygienischen Betreuung verbessert sich.

Nach über sieben Jahren wird Wolfgang Natonek Ende Dezember 1955 aus der Haftanstalt Torgau entlassen, begnadigt mit der Auflage, Leipzig nicht verlassen zu dürfen. Wie bereits 1934 ist er wieder staatenlos. Über Berlin wählt er zusammen mit seiner Frau Christa den Weg in die Freiheit. In Göttingen vollendet er sein Studium, teilweise bei den gleichen akademischen Lehrern, die er aus Leipzig kannte. Für seinen politischen Mitgefangenen, den ehemaligen Berliner Jurastudenten Manfred Klein, wie Natonek gewählter Vertreter im Studentenrat und CDU-Mitglied, schreibt er Sätze, die auch auf ihn selbst zutreffen: „Von seinem Schicksal erzählen heißt nicht Hass säen, heißt nur, eine Wirklichkeit widerspiegeln. Sie zu verschwiegen wäre Wiederholung eines oft an uns gerügten Unrechts. Schon einmal galt die Entscheidung ...’Wir haben nichts davon gewusst’, ein zweites Mal wäre sie Lüge des Gewissens und Leugnung der Verantwortung.“

Am 3.Oktober 2009 jährte sich der 90. Geburtstag von Wolfgang Natonek. Dazu ist rechtzeitig der aufschlussreiche Briefwechsel 1946-1962 zwischen Vater und Sohn erschienen. Die Jungliberalen wählten Natonek 1990 zu ihrem Ehrenpräsidenten. Der Freistaat Sachsen hat bei der schon genannten Immatrikulationsfeier Wolfgang Natonek 1992 mit dem Professorentitel geehrt. In seiner Dankesrede erinnerte er namentlich an die vielen, allzu vielen Opfer in den beiden deutschen Diktaturen. Wolfgang Natonek starb am 21. Januar 1994 in Göttingen. 1995 erfolgte auf Antrag von Christa Natonek seine Rehabilitation durch den Militärstaatsanwalt der russischen Föderation. Eine kleine Straße im Leipziger Norden erinnert an Vater und Sohn Natonek.

Gerald Wiemers

Der AutorProfessor Dr. Gerald Wiemers ist Historiker und Archivwissenschaftler. Seine Spezialgebiete sind Jugendwiderstand unter der SED-Diktatur sowie Wirken und Verfolgung jüdischer Wissenschaftler an der Universität Leipzig. Kürzlich erschien der sechste Band der Sächsischen Lebensbilder, für den Prof. Wiemers verantwortlich zeichnet.Erschienen in FREIHEIT UND RECHT 2010 / 1