Die „Abstimmung mit den Füßen“ endete am 13. August 1961

Von Hans-Jürgen Grasemann

Besser als jede wissenschaftliche Analyse hat die Fluchtbewegung aus der DDR den totalitären Charakter des SED-Regimes entlarvt. Über die „offene Grenze“ in Berlin sind 1961 bis zum 13. August 155.000 Menschen geflohen. Im Jahr zuvor wurden 200.000 Flüchtlinge gezählt. Insgesamt haben über 3 Millionen DDR-Bürger ihrem Staat den Rücken gekehrt.

Der Mauerbau in Berlin am 13. August 1961 beendete die „Abstimmung mit den Füßen“. Mit den Betonmauern, Stacheldrahtrollen, Minenfeldern und mörderischen Selbstschussanlagen an den Metallgitterzäunen sowie dem Schießbefehl, von dem rücksichtslos Gebrauch gemacht wurde, war die Grenze für 28 Jahre ein fast unüberwindbares Hindernis für alle, die in die Freiheit strebten.

Der Ausbau der Grenzanlagen wurde im Innern durch einen gigantischen Überwachungs- und Unterdrückungsapparat mit 91.000 Hauptamtlichen und 173.000 Inoffiziellen Mitarbeitern begleitet. Die Stasi als „Schwert und Schild der Partei“ war ebenso wie die Grenzsicherung Garant der SED zur Erhaltung ihrer nicht demokratisch legitimierten Macht.

„Das Leben der Anderen“ wurde bespitzelt mit dem Ziel, Andersdenkende als „feindlich-negative Elemente“ zu kriminalisieren und psychisch oder physisch zu vernichten. Der Willkür ausgeliefert, verbüßten 250.000 aus allein politischen Gründen Verurteilte Freiheitsstrafen, die kaum jemals im Verhältnis des Vorwurfs standen.

Mit der Verfolgung einer Vielzahl von Unrechtstaten und Einleitung von Rehabilitierungsverfahren ist die justizielle Vergangenheitsaufarbeitung längst abgeschlossen – aus der Sicht der Opfer selten zufriedenstellend, auch wenn im Einzelfall festgestellt wurde, dass Unrecht nicht dadurch Recht wird, dass staatliche Institutionen es in Rechtsbestimmungen kleiden.

Seit dem Fall der Mauer vor 18 Jahren sind gewiss mannigfaltige Anstrengungen zur Erforschung der Ursachen und Folgen der SED-Diktatur unternommen worden. Doch die größte Aufgabe liegt noch vor uns: Jungen Menschen die Geschichte politischer Verfolgung und von Opposition und Widerstand zu vermitteln, ihnen den Besuch authentischer Orte der Täter und Opfer zu ermöglichen, wie es die Stasi- Haftanstalten Hohenschönhausen oder Magdeburg sind.

Hoffen wir, dass es vielen so geht wie einer Schülerin, die ehemaligen politischen Gefangenen in Bautzen ihre Empfindungen schilderte: „Mit Ihren Erzählungen von Mut und Widerstandskraft, von Individualität und Selbstbehauptung, von der Kultur in der geistigen Wüste, haben Sie mir viel gegeben. Sie haben mich mit Ihren traurigen Geschichten neu dankbar gemacht für die Freiheit, die ich genießen darf“.

Nichts macht uns die Grundwerte der Demokratie und des Rechtsstaates bewusster als das Bewusstwerden der Folgen ihres Verlustes.

 

Der Kommentator, Dr. Hans-Jürgen Grasemann, ist Oberstaatsanwalt in Braunschweig und war sechs Jahre Sprecher der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter. Seit Juli 2007 ist er Mitglied des Vorstandes des ZDWV.

 

Erschienen in: FREIHEIT UND RECHT 2007 / 3

 

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