Zwei Diktaturen in Deutschland

Zur Auseinandersetzung über ihre Vergleichbarkeit

Von Hans-Jürgen Grasemann

Wir sind das Volk, das sich mit dem untrennbaren Zusammenhang der beiden totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts am intensivsten auseinandersetzen muss. Dem wiedervereinigten Deutschland bieten sich einzigartige Chancen für einen Vergleich der beiden Diktaturen. Dessen besondere Notwendigkeit liegt darin, dass das SED-Regime das Ausmaß der von KPD und NSDAP gemeinsam betriebenen Zerstörung der Weimarer Republik leugnete und sich dann mit seinem Antifaschismus-Mythos als Gegenentwurf zur Nazi-Diktatur legitimieren wollte. Die KPD-SED liquidierte die stärkste der demokratischen Parteien (SPD), schaltete die anderen gleich und gab vor, eine neue Gesellschaft zu schaffen, in der die schönsten Träume wahr würden, eine Gesellschaft, in der kein Mensch durch einen anderen ausgebeutet, geschweige denn geknechtet wird, sondern in der „alle Menschen Brüder“ werden. Eine Gesellschaft zudem, in der die Möglichkeit eines Faschismus für alle Zeiten ausgeschlossen sei. Frieden, Demokratie, Humanismus, am Anfang auch Einheit, waren die bis zum Überdruss heruntergeleierten Schlagworte, mit deren Anwendung Lüge und Terror von Beginn an Gestalt annahmen.

Wie jeder historische Vergleich ist auch der Vergleich zwischen NS-und SED-Diktatur – zu recht – umstritten. Wer der Vergleichbarkeit das Wort redet, hat sich seit jeher verteidigen müssen. Ihm wird entgegen gehalten, dass der DDR-Sozialismus im Gegensatz zum Nationalsozialismus keinen Holocaust verübt und auch nicht für die Entfesselung eines Weltkrieges mit Millionen Opfern verantwortlich ist. Das Universalargument der Gegner lautet, dass der Vergleich des Dritten Reiches mit der DDR eine schreckliche Verharmlosung des Nationalsozialismus sei. Das Dritte Reich habe Berge von Leichen hinterlassen, die DDR Berge von Karteikarten und Akten. Schon die Bewertung der SED-Herrschaft als totalitäre Diktatur sei abzulehnen, weil sie eine unzulässige Gleichsetzung der DDR mit dem NS-Regime nahe lege.

Vergleich bedeutet indes nicht Gleichsetzung. Schon 1929 hat Otto Hintze zum historischen Vergleich ausgeführt: „Man kann vergleichen, um ein Allgemeines zu finden, das dem Verglichenen zugrunde liegt; man kann vergleichen, um den einen der möglichen Gegenstände in seiner Individualität schärfer zu erfassen und von dem anderen abzuheben.“ Vergleich und Unterscheidung bedingen einander. Es geht mithin um Ähnlichkeiten und Vergleichbarkeiten von Diktaturstrukturen, um die Auswirkungen von autoritären und totalitären Diktaturen. Das Ziel darf selbstverständlich nicht sein, die einzigartigen Verbrechen zwischen 1933 und 1945 durch das DDR-Unrecht zu relativieren oder gar zu bagatellisieren. Gerade durch den Vergleich werden auch die Unterschiede der beiden Diktaturen systematisch herausgearbeitet, nicht nivelliert. Die Furcht mancher, dass der Vergleich zu einer undifferenzierten Geschichtsschreibung oder einer simplifizierten Beurteilung führt, zu einer Verharmlosung der Singularität des Genozids, erscheint unbegründet.

Das Totalitarismus-Konzept, dem von seinen Kritikern im Kalten Krieg vorgeworfen wurde, dass es die Gemeinsamkeiten von Nationalsozialismus und Kommunismus zu stark betone und die grundlegenden ideologischen Unterschiede leugne, ist seit dem Ende der SED-Herrschaft wieder Gegenstand heftig geführter Diskussionen und erscheint aktueller denn je.

So hat der Nestor der deutschen Zeitgeschichtsforschung, Karl Dietrich Bracher, 1993 unter dem Eindruck der sich entwickelnden Auseinandersetzung über den Vergleich der beiden Terror-Regime erklärt: „Es sollte keiner Diskussion mehr bedürfen, dass Nationalsozialismus und Kommunismus durchaus miteinander zu vergleichen sind, und zwar in dem Sinne ihrer inhumanen Zielsetzungen und der Anwendung ihrer Mittel.“ Bracher sprach in Anlehnung an das „klassische“ Totalitarismus- Modell von Carl J. Friedrich von einem totalen Herrschaftsanspruch und Führungsprinzip sowie von einer ausschließlichen Ideologie und der Fiktion der Identität von Regierenden und Regierten.

Unbestreitbar ist, dass beide Systeme in ihrer Herrschaftspraxis charakteristische Ähnlichkeiten aufweisen. Ihre grundlegenden Gemeinsamkeiten sind signifikant: die Monopolgeltung einer scheinbar alles erklärenden Ideologie, der ausschließliche Machtanspruch einer dieser Ideologie verpflichteten Partei, die Ablehnung der Gewaltenteilung, die Einschränkung oder Suspendierung der Grund- und Menschenrechte, die Abschaffung einer nur Recht und Gesetz verpflichteten unabhängigen Justiz, die Gleichschaltung und Instrumentalisierung der Medien, der Kultur und des gesamten geistigen Lebens, die totale Kontrolle und Lenkung von Staat, Gesellschaft und Individuen durch eine allmächtige Geheimpolizei, die die Willkür der Partei umsetzt und deren aggressive Feindbilder pflegt, um politische Gegner auf „legalem“ Weg ausschalten zu können, der Abbau rechtsstaatlicher Garantien, die Schaffung weit gefasster und unpräziser Straftatbestände im politischen Strafrecht, die Stärkung der Staatsanwaltschaft und die Errichtung von Sondergerichten und Sonderstrafkammern, die Zentralisierung der absoluten politischen Macht, die den Alltag der Bürger bestimmenden Repressions- und Überwachungsmaßnahmen, „Erziehungsdiktatur und Tugendterror“, die ständige Betonung kollektiver Werte, die Massenmobilisierung und ihre politisch- ideologischen Aktionsfelder für alle gesellschaftlichen Schichten.

Die Gemeinsamkeiten in den Grundzügen und Strukturen der beiden diktatorischen Regime verbieten zugleich ihre Gleichsetzung aus den bekannten Gründen. Konnten Hitler und der Nationalsozialismus lange auf die massive Unterstützung durch das deutsche Volk bauen, hat die SED die von ihr unablässig behauptete Massenbasis nie besessen. Weil sie sich ihrer fehlenden demokratischen Legitimation bewusst war, errichtete sie zur Erhaltung ihrer Macht einen gigantischen Überwachungs- und Unterdrückungsapparat mit 91 000 Hauptamtlichen und 173 000 Inoffiziellen Mitarbeitern, der das „Leben der Anderen“ erkundete und im Einzelfall unbarmherzig mit dem Ziel der psychischen oder physischen Vernichtung durch Kriminalisierung zuschlug. 250 000 bis 300 000 politische Häftlinge verbüssten rechtlos und der Willkür ausgeliefert unter Missachtung ihrer Menschenwürde in den Untersuchungshaftanstalten des MfS und in den Strafvollzugseinrichtungen Freiheitsstrafen, die kaum jemals im Verhältnis zum Vorwurf standen.

Daraus erklärt sich, dass der Vergleich der beiden Systeme vor allem von ihren Haftopfern oder deren überlebenden Angehörigen betrieben wird. Sie wehren sich gegen die nach ihrer Auffassung allzu theoretischen und wissenschaftlichen Deutungen und Definitionsversuche, die ihrem persönlichen Schicksal nicht gerecht werden. Sie wehren sich aber auch zu recht dagegen, „aufgerechnet“ zu werden und weisen darauf hin, dass beide Regime unmenschlich waren und dass es für jedes einzelne Opfer unerheblich ist, wie groß die Zahl der anderen Opfer ist. Besondere Glaubwürdigkeit können dabei vor allem jene Zeitzeugen beanspruchen, die Haftanstalten oder Lager beider Systeme durchlitten haben. Die Opfer der Diktaturen sind eben nicht „aufzurechnen“, sondern zu addieren. Jedes Einzelschicksal verdient Anteilnahme, Fürsorge oder Erinnerung. Der demokratischen Gesellschaft steht es gut an, sich der Opfer – zumal der lebenden – nicht nur an Gedenktagen zu erinnern, sondern sich ihrer anzunehmen und ihnen mehr als den ehemaligen Tätern Gehör zu verschaffen.

Gewiss, die DDR war kein Drittes Reich, aber ebenso ein Staat, in dem Unrecht System war und die Menschenrechte missachtet wurden. Dem Staat der SED kann kein Eroberungs- und Vernichtungskrieg und nicht millionenfach organisierter Mord angelastet werden. Auch stehen den 160 vollstreckten Todesurteilen in der DDR 50 000 bis 60 000 Todesurteile von Sonder- und Kriegsgerichten, darunter allein 5 200 vom Volksgerichtshof verhängte Todesurteile, gegenüber.

Die Veränderung und Untergrabung bestehender normativer Rechtsgrundsätze durch das nationalsozialistische Regime hat Ernst Fraenkel bereits 1941 veranlasst, diesen Zustand als „Dualismus von Maßnahmen- und Normenstaat“ zu kennzeichnen. In diesem „Doppelstaat“ („dual state“) würden zwar zahlreiche Gesetz- und Rechtsnormen äußerlich fort gelten, aber nur auf Abruf und mit der Funktion als Fassade für die unbeschränkten Maßnahmen der Führergewalt: „Der Maßnahmenstaat ergänzt und verdrängt nicht nur den Normenstaat, er bedient sich auch des Normenstaats, um seine politischen Zwecke rechtsstaatlich zu tarnen.“ Da aber alles unter dem „Vorbehalt des Politischen“ stand, habe alles und jedes dem Zugriff des Maßnahmenstaates offen gestanden.

Auch für die DDR galt, dass weite Rechtsbereiche des Familien- und Arbeitsrechts, sogar Teile des Strafrechts, und natürlich das Zivilrecht, verbindlich waren. Doch parallel zu diesem „Normenstaat“ herrschte die durch keinerlei rechtsstaatliche Garantien eingeschränkte politische Gewalt durch MfS und politische Justiz. Da nach Fraenkel von einem „Doppelstaat“ nur gesprochen werden sollte, „wenn die Staatsgewalt strukturell einheitlich organisiert ist, ihre Handhabung jedoch funktionell nach verschiedenen Methoden in Erscheinung tritt“, gilt der für den nationalsozialistischen Staat entwickelte Begriff des „Doppelstaates“ auch für den Staat der SED. Denn seine Rechtsordnung stand ebenfalls zur Disposition der politischen Instanzen, Politbüro und Zentralkomitee der herrschenden Partei als selbst ernannter Vollstreckerin der Geschichte.

Das Gewebe von Heuchelei und Lüge, mit dem das Leben im stalinistisch geprägten System durchsetzt und überzogen war, hat Vaclav Havel 1989 in einem Essay eindrucksvoll beschrieben:

„Die Macht der Bürokratie wird Macht des Volkes genannt; im Namen der Arbeiterklasse wird die Arbeiterklasse versklavt; die allumfassende Demütigung des Menschen wird für seine definitive Befreiung ausgegeben; Isolierung von der Information wird für den Zugang zur Information ausgegeben; die Manipulierung durch die Macht nennt sich öffentliche Kontrolle der Macht, und die Willkür nennt sich die Einhaltung der Rechtsordnung; die Unterdrückung der Kultur wird als ihre Entwicklung gepriesen; die Ausbreitung des imperialen Einflusses wird für die Unterstützung der Unterdrückten ausgegeben; Unfreiheit des Wortes für die höchste Form der Freiheit; die Wahlposse für die höchste Form der Demokratie; Verbot des unabhängigen Denkens für die wissenschaftliche Weltanschauung; Okkupation für brüderliche Hilfe. Die Macht muss fälschen, weil sie in ihren eigenen Lügen gefangen ist. Sie fälscht statistische Daten. Sie täuscht vor, dass sie keinen allmächtigen und zu allem fähigen Polizeiapparat hat, sie täuscht vor, dass sie die Menschenrechte respektiert, sie täuscht vor, dass sie niemanden verfolgt, sie täuscht vor, dass sie keine Angst hat, sie täuscht vor, dass sie nichts vortäuscht.“

Der Rückblick auf unsere doppelte diktatorische Vergangenheit und der Vergleich der beiden Diktaturen in Deutschland sind auch ein Beitrag zur Gestaltung der Zukunft in der Demokratie. Nichts lässt uns die Fundamentalwerte der Demokratie und des Rechtsstaates bewusster erleben und erkennen, dass Freiheit und Toleranz stets aufs Neue verteidigt werden müssen, als das Bewusstwerden der Folgen ihrer Abschaffung. Die Institutionen des Rechtsstaates bedürfen auch in der Demokratie der Rückbesinnung auf die Freiheitstradition. Demokratie braucht Demokraten!

 

Der Autor: Dr. Hans-Jürgen Grasemann, geb. 1946, ist Oberstaatsanwalt in Braunschweig und war von 1988 bis 1994 stellv. Leiter und Sprecher der Zentralen Erfassungsstelle Salzgitter. Er verfasste zahlreiche Abhandlungen und hielt viele Vorträge zur deutschen Diktaturvergangenheit von 1933 bis 1989. Seit 2006 ist er Vorsitzender des Vorstandes des Trägervereins der Politischen Bildungsstätte Helmstedt e.V.

 

Erschienen in: FREIHEIT UND RECHT 2007 / 2

 

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