Erschossen in Moskau

Mit 21 Jahren Stalins Opfer: Herbert Belter 1929-1951

von Gerald Wiemers

Unmittelbar nach der Verhaftung des Leipziger Studentenratsvorsitzenden Wolfgang Natonek und zahlreicher anderer Studenten am 11. November 1948 wurde die liberale Hochschulgruppe an der Universität Leipzig verboten. Der Studentenrat, kommunistisch unterwandert, spielte bald keine Rolle mehr. Die FDJ wird flächendeckend eingeführt und zunehmend monopolartig, zentralistisch geleitet, zum „Sprecher“ der Studentenschaft erhoben. Die offene Auseinandersetzung zwischen christlichen und liberalen Anschauungen einerseits und der kommunistischen andererseits ist nicht mehr möglich.

In dieser Zeit versucht Herbert Belter, der an der Vorstudienanstalt in Rostock im Juli 1949 sein Abitur bestanden hat, Volkswirtschaft und Gesellschaftswissenschaften an der neu gegründeten GeWifa (Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät) der Universität Leipzig zu studieren. Die materiellen Bedingungen sind nach wie vor hart.

Der ideologische Druck an der Universität wächst im gleichen Maße, wie hervorragende akademische Lehrer die DDR verlassen: die Juristen Arthur Nikisch oder Hans-Otto de Boor, die sich im Nationalsozialismus verweigert haben und nun erneut auf der „falschen Seite“ stehen. Viele, zu viele werden in den Westen vertrieben: so die Philosophen Hans-Georg Gadamer und Theodor Litt oder die Historiker Johannes Kühn und Otto Vossler. Die Lücken konnten nicht mehr geschlossen werden.

 Die Nachwehen der Verhaftungswelle von 1948 wird der junge Belter noch erlebt haben. Den stalinistischen Druck auf alle Bereiche des Lebens nimmt er wahr, und anfangs versucht er sich der sogenannten gesellschaftlichen Arbeit zu entziehen. Mit dem Verlangen nach Informationen über die Bedingungen in den Westzonen, über die tatsächlichen Verhältnisse in der SBZ bzw. DDR entsteht auch bald das Verlangen, eigene Berichte über die Ereignisse an der Universität Leipzig zu schreiben und die Kommilitonen aufzuklären. Die Verbindungen zum RIAS und später zum Ostbüro der SPD werden durch Werner Gumpel und Siegfried Jenkner intensiviert. Broschüren über das wahre Gesicht der kommunistischen Diktatur werden eingeführt und verbreitet. Das Interesse daran ist groß. In kurzer Zeit hat Belter einen Kreis von Gleichgesinnten um sich geschart, die über Zeitereignisse diskutieren. Zu seinen Freunden zählen Helmut du Mênil, Werner Gumpel und Siegfried Jenkner.

Gemeinsam mit du Mênil entscheidet sich Belter, offensiv gegen die kommunistische Propaganda vorzugehen. Anlass sind die ersten Volkskammerwahlen vom Oktober 1950, die - entgegen der Verfassung der DDR - als „Blockwahlen“ mit einer Einheitsliste durchgeführt werden. Gemeinsam verteilen sie Flugblätter in der Innenstadt von Leipzig. Auf dem Rückweg geraten sie in eine Routinekontrolle der Polizei. Während du Mênil, der in Leipzig gemeldet ist, frei kommt und nach (West-)Berlin flüchtet, wird Belter verdächtigt und auf die Wache mitgenommen. Am nächsten Morgen wird seine Wohnung durchsucht. Dort findet man weitere Flugblätter und Schriften, die für seine sofortige Verhaftung - auch seiner Kommilitonen - ausreichen.

 Von der deutschen Polizei werden neun Studenten und ein Handwerker verhaftet, verhört und schließlich an den russischen Geheimdienst ausgeliefert, übrigens gegen den Artikel 10, Absatz 1 der geltenden Verfassung der DDR, worin es heißt, „Kein Bürger darf einer auswärtigen Macht ausgeliefert werden.“ Unter dem stalinistischen Terror war dem sowjetischen Geheimdienst die „Beute“ willkommen, ja es gab sogar Planlisten für zu verhaftende „Reaktionäre“ in den Zeiten des „sich verschärfenden Klassenkampfes“. Nach ihrer Festnahme und zahllosen Verhören macht ein sowjetisches Militärgericht den jungen Männern einen kurzen Prozess. Am 21. Januar 1951, nach nur zwei Verhandlungstagen, werden in der Bautzner Straße in Dresden, dem NKWD-Sitz, gnadenlose Urteile gefällt. Herbert Belter wird als Rädelsführer zum Tode verurteilt, die anderen erhalten zwischen 50, 25 und 10 Jahren Zwangsarbeit zudiktiert. „Keiner von uns“, schreibt Peter Eberle, Student der Zahnmedizin und selbst zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, „konnte und wollte die Schwere des Urteils überhaupt geistig erfassen. Alle waren wir überzeugt: Unsere Haftstrafen werden wir niemals absitzen. Vor allem aber, Herbert Belter wird begnadigt. Wie bitter haben wir uns getäuscht...“

Die übrigen Studenten kamen in das berüchtigte Straflager Workuta und der Handwerker Ehrhardt Becker aus Bad Lausick nach Taischet in Sibirien. Erst 1953 bzw. 1955 kamen sie frei, nachdem Bundeskanzler Konrad Adenauer in Moskau nach zähen Verhandlungen die Rückführung aller deutschen Kriegsgefangenen, dazu wurden von den Sowjets auch die nach dem Kriege verhafteten deutschen Studenten gerechnet, gegen den Austausch von diplomatischen Beziehungen erreicht hatte. Allein bei den von Oktober 1955 bis Januar 1956 vorgenommenen Entlassungen schoben die Sowjets die politischen Gefangenen stillschweigend unter. Von den knapp 10.000 Kriegsgefangenen (genau 9.536) waren fast ein Drittel (exakt 3006) politische Gefangene.

Aus den für ihre Zwecke geschönten Protokollen der russischen Vernehmer gehen dennoch die Motive des Handelns der Verurteilten klar hervor. „Ich habe mich illegal betätigt, weil ich unzufrieden mit der Situation an der Leipziger Universität war“, sagt Belter vor dem russischen Tribunal, “wir hatten keine Gewissensfreiheit und keine Pressefreiheit.“

Kurze Zeit später wird Herbert Belter zunächst gemeinsam mit den anderen, aber getrennt von ihnen in einer Sonderzelle des Transportautos, nach Berlin-Lichtenberg gebracht. Dort ist er in der Nachbarzelle von Werner Gumpel, Herbert Jenkner und Karl Miertschischk eingesperrt. „Wir kommunizierten“, schreibt Werner Gumpel „mittels Klopfzeichen (Morse-Alphabet, das sich gut zum Klopfen eignet). Eines Tages gab er durch, dass ihm der Kopf geschoren worden sei. Wir glaubten, dass dies direkt vor der Exekution erfolgte, wenige Tage später geschah dies aber auch bei uns. Eines Tages wurde er aus der Zelle geholt. Damit erlosch jede Möglichkeit einer Kommunikation. Jetzt wissen wir, dass er zur Exekution nach Moskau gebracht wurde. Es war dies am 9. März 1951. Ich hatte mir das Datum fest eingeprägt und habe es kurz nach der Rückkehr (ebenso wie andere Details) in einem Brief an den Suchdienst des Evangelischen Hilfswerks für Kriegsgefangene und Internierte festgehalten.“

Am 28. April 1951 wird Herbert Belter in der Butyrka, einem berüchtigten Moskauer Gefängnis, heimlich erschossen. Sein Gnadengesuch war zuvor von der sowjetischen Militärstaatsanwaltschaft abgelehnt worden. Niemand erfährt etwas von seinem Schicksal. Seine Eltern sterben darüber hinweg. Erst als sich die russischen Archive 1990 für einige Zeit öffnen und auf Antrag eine Rehabilitierung erfolgt, wird sein früher, unnatürlicher Tod bekannt.

Belters letzte Ruhestätte befindet sich auf dem Friedhof für Schwerverbrecher in Moskau-Donskoj, in einem Massengrab zusammen mit der Asche der Hingerichteten aus dem Jahre 1951. Dort ist am 1. Juli 2005 ein Gedenkstein am Massengrab III zur Erinnerung an ca. 900 ermordete Deutsche feierlich eingeweiht worden. Die Feier war möglich geworden durch die internationale Menschenrechtsorganisation Memorial, insbesondere durch ihre russische Sektion. Im Namen der noch Lebenden der Belter-Gruppe hat Peter Eberle am Grab von Herbert Belter einen Blumengebinde niedergelegt.

Die Universität Leipzig widmete seinem Andenken 1996 eine Ausstellung, 2000 wurde nach Herbert Belter in Leipzig eine Straße benannt - zum ersten Mal wird in dieser Form ein Mann des studentischen Widerstandes gegen das SED-Unrechtsregime gewürdigt - und 2001 fand im Universitätsarchiv eine Gedenkveranstaltung zu seinem 50. Todestag statt. Am 19. Mai dieses Jahres wird an der Universität Leipzig, die ihr 600-jähriges Bestehen feiert, eine jährliche Vortragsreihe unter dem Titel „Belter-Dialoge. Impulse zu Zivilcourage und Widerstand“ begründet. Herbert Belter wurde vor fast 80 Jahren am 21. Dezember 1929 in Greifswald geboren. Ihn nicht zu vergessen, an sein kurzes, intensives Leben zu erinnern, bleibt ein Vermächtnis für alle künftigen Studierenden an der Universität Leipzig.

 

Erschienen in: FREIHEIT UND RECHT 2009 / 1